GALLENSTEINE IN DER TRAM
: Krankenkonkurrenz

Und dann das Aufstoßen! Und die Blähungen!

„Die Gallensteine!“, deutet sie auf ihren Unterleib. „Diesen Sommer müssen die raus. Sobald die Kirschen unten sind, lass ich sie mir entfernen.“ Die Frau mir gegenüber ist um die siebzig und hat offenbar ziemlich genau so viele kleine Steine in ihrem Bauch wie sie Jahre auf dem Buckel hat. Das sei wie mit den Jahresringen bei einem Baum, erklärt sie, nicht ohne Stolz in den Augen.

Wir sitzen schon seit sechs oder sieben Stationen einander gegenüber, und seit sechs oder sieben Stationen erzählt sie mir von ihren Gallensteinen. Immer wieder fährt sie sich mit der Hand über den Unterleib und macht „Uuh!“ oder „Ffff.“ Und atmet dabei so komisch. Anfangs habe ich gedacht, dass es vielleicht etwas Ernstes sein könnte, ein akuter Notfall, ein Blinddarmdurchbruch zum Beispiel oder ein winziger Alien, der jeden Moment aus ihrem Bauch herausschießen und das ganze Abteil in Angst und Schrecken versetzen könnte. Deshalb bin ich in Gedanken meine Erste-Hilfe-Kenntnisse durchgegangen. Stabile Seitenlage, das ist immer das Erste, was mir einfällt.

„Sie sind ja noch jung, da machen Sie sich kein Bild, was so eine Kolik mit sich bringt“, winkt sie ab. „Und dann das Aufstoßen. Und die Blähungen!“ Der Mann neben mir liest in aller Seelenruhe weiter. „Hier“, fährt sie fort, „hab ich immer dabei.“ Sie zieht eine Wärmflasche aus der Tasche und legt sie auf den Bauch. „Das hilft. Zumindest ein bisschen.“ Dann schließt sie die Augen und atmet mit einem entlastenden Seufzer aus. Nachdem ein paar Sekunden nichts passiert, beschließe ich, mich aktiver an der Unterhaltung zu beteiligen.

Als ich zaghaft das Stichwort „Hämorrhoiden“ aufbiete, schlägt sie umgehend die Augen auf. Auch der Mann neben mir legt sein Buch zur Seite. Alles um uns herum scheint plötzlich still. Für die letzten beiden Stationen darf ich mir ihre Wärmflasche ausleihen. JOCHEN WEEBER