Etappensieg, aber keine Euphorie

BRASILIEN Die Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr werden zurückgenommen. Die Protestbewegung will trotzdem weitermachen

Die Demonstranten sind nicht mehr Randalierer und Chaoten, sondern Bürger

AUS RIO DE JANEIRO ANDREAS BEHN

Auf den ersten Blick haben die Demonstranten einen großartigen Sieg errungen. In São Paulo und Rio de Janeiro werden die Fahrpreiserhöhungen für Busse und Bahnen zurückgenommen. Dies war die wichtigste und zugleich einzig konkrete Forderung der Protestbewegung, die Brasilien seit Wochen in Atem hält. Unwillig traten die Bürgermeister der beiden größten Städte Brasiliens Mittwoch Nachmittag vor die Presse und verkündeten ihr Einlenken. Die Lage im Land war unhaltbar geworden.

Die siebenprozentige Tariferhöhung für marode und überfüllte Busse und Bahnen hatte ein Fass zum Überlaufen gebracht. Unzählige Demonstrationen, brutale Polizeieinsätze und schließlich eine Viertelmillion Menschen auf den Straßen veränderten das Kräfteverhältnis in einem Land, in dem die Menschen meist lieber am Kneipentisch murren und die Politik den ungeliebten Politikern überlassen.

Trotz des Etappensiegs gingen die Proteste am Mittwoch Abend weiter. Allein São Paulo gab es vier Protestzüge, im Großraum Rio gingen Tausende auf die Straße. Lange Zeit blieb es friedlich, später kam es zu den üblichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einige feierten das erreichte Ziel, andere hielten sich an die Parole, dass es nicht nur um Buspreise, sondern um Rechte geht. Sie fordern mehr Geld für Bildung und Gesundheit und kritisieren die Milliardenkosten für WM und Olympische Spiele sowie die korrupte, intransparente Regierung.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sich das Entgegenkommen der Stadtregierungen als Mogelpackung. Rios Bürgermeister Eduardo Paes sagte unumwunden, die Einnahmeausfälle der privaten Busunternehmen in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro jährlich müssten „an anderer Stelle im Haushalt eingespart“ werden. Ohne zu sagen, wo er sparen wolle, verglich der rechte Politiker die Höhe des Verlusts mit der jährlichen Finanzierung von Familienkliniken durch den Stadthaushalt.

Es wird also nur neu gerechnet, ohne zu hinterfragen, warum die Stadt am Zuckerhut so teure wie schlechte Verkehrsmittel hat. Offiziellen Zahlen zufolge geben Menschen mit einem Familieneinkommen von bis zu 1.000 Euro in Rio fast 10 Prozent ihres Geldes für Transportmittel aus, doppelt so viel wie im Landesschnitt. Zudem lag die gesamte Tariferhöhung in den vergangenen zehn Jahren ein Drittel über der Inflationsrate.

Unter den Aktivisten macht sich jetzt die Sorge breit, wie es weitergehen soll. Für Donnerstag war ein nationaler Aktionstag angesetzt. Doch für eine euphorische Stimmung reicht es nicht. Viele meinen, das Problem sei nicht nur, nun neue konkrete und erfüllbare Forderungen zu stellen. Die Bewegung selbst droht an Kontur zu verlieren.

Indiz dafür ist der radikale Diskurswechsel, den Regierungspolitiker und vor allem die Medien nach dem eindrucksvollen Protestmontag vollzogen haben. Statt von Randalierern und Chaoten zu sprechen, nennt die Regierung die Demonstranten jetzt Bürger, die – so Präsidentin Dilma Rousseff – „unsere Demokratie gestärkt“ haben. Die rechte Presse kritisiert nur noch die Gewalt und macht sich ansonsten schon zum Fürsprecher der Bewegung. Ganz unauffällig gibt sie dabei mittlerweile auch die Themen vor: Immer wieder werden Bilder mit der Nationalflagge gezeigt, auf Schildern wird nur noch ganz allgemein „Korruption“ kritisiert, in Zitaten beschweren sich die Demonstranten vor allem über die Inflation, die hohen Steuern oder die Misswirtschaft.

Radikale Forderungen, die die herrschenden Zustände und sozialen Ungerechtigkeiten hinterfragen, werden ausgeblendet. Andere sehen es optimistischer, die Bewegung sei nun mal sehr vielfältig. Und den Medien gelinge nicht immer zu manipulieren. Viele setzten auch darauf, dass erfolgreiches Demonstrieren ansteckend ist. Irgendwann müsse ja die Politisierung der Leute beginnen.

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