Das Rollenspiel seines Lebens

AUS FRANKFURT HEIDE PLATEN

Das nennt man wohl Küchenpsychologie, was da im Zuschauerraum und auf der Pressetribüne im Gerichtssaal 165 C des Frankfurter Landgerichts betrieben wird. Die einen halten den Computer-Servicetechniker Armin Meiwes (44) für einen eiskalten Mörder, der lebenslang weggesperrt gehört. Die anderen sind fest davon überzeugt, dass der Mann komplett verrückt ist.

Meiwes selbst ficht das alles nicht an. Seit dem ersten Prozess vor zwei Jahren in Kassel hat er sein Bild von sich und seiner Tat nicht geändert, eher manifestiert. Er plaudert freundlich und offen wie über einen neuen Trend. Darüber, dass und wie er den Berliner Ingenieur Bernd Jürgen B. (43) per Internet kennen lernte, wie sie sich am 9. März 2001 trafen, er B. den Penis mittels Küchenmesser und Schneidebrettchen amputierte, den erst Stunden später bewusstlos gewordenen Mann zum Ausbluten fachgerecht abstach, ihn aufhängte, schlachtete, zerteilte, einfror und bei Kerzenschein und Rotwein aufaß.

Die Sehnsucht vom Bernd

Das Kasseler Landgericht hatte ihn wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft blieb beim Mordvorwurf und legte Einspruch ein, Meiwes und sein Verteidiger Harald Ermel ebenfalls. Sie streben diesmal eine geringere Strafe an mit der Begründung, Meiwes habe sein Opfer auf dessen Verlangen hin getötet. Bei Meiwes klingt das nach einer guten Tat, die „der Bernd“ herbeigesehnt habe. Der Bundesgerichtshof sah den Mordvorwurf als nicht ausreichend geprüft an und verwies das Verfahren zur Neuauflage nach Frankfurt.

Der Vorsitzende Richter Klaus Drescher ist ein ruhiger, verbindlicher Mann. Er hakt nach, klärt geduldig strittige Fragen. Meiwes ist devot und auskunftsfreudig. Das führt auch in diesem neuen Verfahren, mehr noch als im ersten, zu die Grenze des Absurden überschreitenden Dialogen. Da wird im Partyton geredet über B.s Wunsch, dass ihm der Penis abgebissen, ihm sein Fleisch mit den Zähnen von den Knochen gerissen werde. Dafür hatte B. im Berliner Strichermilieu Geld geboten, vergeblich. Meiwes’ Obsession war Menschenfleisch. Er wollte schlachten und essen, sich einen jungen, gut gebauten Menschen, der ihm sympathisch sein sollte, einverleiben: „Er sollte ein Teil von mir werden.“ Das Aufessen nennt er „Ehre erweisen“. Deshalb habe er auch den abgetrennten Kopf des im dafür eingerichteten Schlachtraum – einer, trüben, schmuddeligen Kammer – am Haken aufgehängten Opfers beim Zerteilen des Leichnams neben sich auf den Tisch gestellt: „Der Bernd sollte dabei sein.“

Das Gericht hinterfragte an den ersten Verhandlungstagen immer wieder akribisch die Anhaltspunkte zum Vorwurf des Mordes aus niedrigen Beweggründen zur Befriedigung des Geschlechtstriebes. Von dem, was Meiwes sich als „den größten Kick“ seines Lebens erhofft habe, so Vorsitzender Drescher, habe er wohl erhebliche Abstriche machen müssen. B. entsprach Meiwes’ Vorstellungen eigentlich nicht – er war zu alt, wohl auch wenig sympathisch, ähnelte so gar nicht dem von ihm geschilderten Wunschbild, dem hermaphroditischen, blonden Badehosenknaben Sandy aus der Fernsehserie „Flipper“. Meiwes, stellte der Richter fest, habe da ja nicht gerade sein Ideal gefunden. Der erklärt pragmatisch: „Die sind ja auch nicht so oft zu finden.“

Wenn es ihm, fragt das Gericht nach, nicht um „Nahrungsaufnahme“ gegangen sei, sondern er sich schon seit Kindheit danach gesehnt habe, jemanden in sich aufzunehmen, ihn sich einzuverleiben, warum er dann den Kopf nicht angetastet, Herz und Hirn als die „zentralen Organe“ nicht gegessen habe? Meiwes gibt auch darüber Auskunft. Der Kopf sei für ihn „etwas Besonderes“ gewesen, das er nicht habe beschädigen wollen. Und die Innereien habe er nicht essen mögen: „Ich habe mich zum Teil geekelt. Ich wusste ja nicht, ob er gefährliche Krankheiten hat.“ Er habe das Muskelfleisch, gut gebraten oder gekocht, bevorzugt. B. hingegen habe seinen eigenen abgeschnittenen Penis roh verspeisen wollen. Auch da habe er nicht mitgegessen. Dieser Wunsch von B. sei ohnehin gescheitert. Er habe das mit einem Küchenbrettchen als Unterlage versehene Glied erst beim zweiten Versuch abtrennen können, denn das extra erworbene „funkelnagelneue Messer“ habe versagt. Dann habe er den Penis längs geteilt, ihn aber roh nicht herunterbekommen. Er sei in die Küche gegangen, habe sich „extra beeilt“ und versucht, den Penis in der Pfanne anzubraten: „Da die Teile aber zu frisch waren, schrumpften sie derart zusammen, dass sie hart und ungenießbar waren.“

„Mach es! Jetzt!“

Meiwes betont immer wieder, er habe sich das eigentlich alles ganz anders vorgestellt: sein Opfer erst einmal eine Woche lang „kennen lernen“, seinen „Körper ertasten“ wollen. Dass es dazu nicht kam, sondern B. in der Nacht nach seiner Ankunft starb, habe daran gelegen, dass dieser immer wieder gedrängelt habe, die Tat noch am selben Tag zu begehen. Er habe ihn unablässig aufgefordert, ihn endlich umzubringen, immer wieder verlangt: „Mach es! Jetzt!“ Er habe Meiwes als „zu lasch“ gescholten, wieder abreisen wollen, es sich dann aber auf dem Bahnhof noch einmal anders überlegt: „Ich habe ihm kundgetan, dass ich enttäuscht war“, sagt Meiwes, „weil ich mich ein Leben lang auf das Schlachten gefreut habe.“ Er selbst habe B. nicht gedrängt, sondern ihm „sein letztes Erlebnis“ nur „besonders schön“ machen wollen. B. sei „glücklich“ gewesen, habe in der Badewanne Musik gehört und die Amputationswunde manipuliert, sodass das Blut „wie ein Springbrunnen“ gesprudelt sei.

Meiwes und seine Verteidiger weisen den Mordvorwurf weit von sich. B. habe sterben wollen, der Angeklagte habe sich nur auf das Aufessen kapriziert. Richter Drescher gibt zu bedenken, dass dem Schlachten doch das Töten vorausgehen müsse. Schon, sagte Meiwes, „mir wäre es auch lieber gewesen, er wäre aus dem Fenster gesprungen oder hätte sich aufgehängt“.

Das Video, auf dem Meiwes die Tat festgehalten hat, brachte ihn schon in Kassel in Bedrängnis. B., so Meiwes, sei schon tot gewesen, verblutet, als er dem Leichnam zwecks fachgerechter Ausblutung in den Hals gestochen habe. Jedenfalls habe er das gedacht. Erst zwei Tage später, als er das Video zum ersten Mal abspielte, habe er gesehen, dass B. noch atmete, und das zuerst nicht glauben können. Diese Szene habe er sich zur Vergewisserung noch einmal genau und dann nie wieder betrachtet. Im Frankfurter Verfahren bezweifelt der Gießener Rechtsmediziner Manfred Risse Meiwes’ Version: Auf dem Video sei deutlich zu erkennen, dass B. noch gelebt habe. Das Opfer habe den Kopf hin und her bewegt, außerdem sei seine Brustatmung zu erkennen.

Meiwes hält sich selbst für eigentlich ganz normal. Über die Kannibalen-Gebräuche beim Rollenspiel und im Internet parliert er wie über eine zwar etwas „bizarre“, aber durchaus nicht unübliche Modeerscheinung, der in Deutschland, rechnet er hoch, zigtausende, weltweit Millionen Menschen anhängen. Moralinsauer warnte er in seiner ersten Einlassung, sie sollten sich besser rechtzeitig Fachleuten anvertrauen, „um entsprechend das in der Fantasie zu halten und nicht praktisch umzusetzen“.

Während der Verhandlung in Kassel hatte sich allerdings herausgestellt, dass die Kannibalen im Internet es überwiegend ohnehin beim sadomasochistischen Rollenspiel belassen. Meiwes hatte berichtet, dass er sich vor seiner Begegnung mit B. schon öfter Hoffnung auf willige Opfer gemacht habe, mit denen er chattete, martialische Mails austauschte und sich verabredete. Mehrmals zahlte er Tickets, reiste oder wartete vergeblich. Auch die Fantasien derjenigen, die sich mit ihm vor und nach B.s Tod zum Rollenspiel trafen, stimmten mit seinen nicht überein. Einer habe, sagt er, „nur von einer Frau geschlachtet werden wollen“, andere ließen es bei Schmerz und Entwürdigung bewenden.

Unbefangen und einsam

Zwei Gutachter, der Berliner Sexualwissenschaftler Klaus Michael Baier und sein Göttinger Kollege, der Psychiatrieprofessor Georg Stolpmann, waren schon im Kasseler Verfahren hinzugezogen worden. Für sie ist es mühselig, den so unbefangen redenden Meiwes dazu zu bringen, sein emotionales und sexuelles Erleben zu beschreiben. Er besteht darauf, dass er, nach ersten Schlachtfantasien im Alter von neun Jahren und verstärkt während der Pubertät, eigentlich eine normale Entwicklung genommen, sich mit Frauen wohl gefühlt, etliche Freundinnen und „One-Night-Stands“ gehabt habe.

Auch während seiner zwölfjährigen Bundeswehrzeit, in der er es bis zum Gerätefeldwebel brachte, habe er den Wunsch zu schlachten nicht oder nur sehr gering verspürt. Dort habe er auch einen Mann kennen gelernt, mit dem er einige Zeit zusammen gewesen sei. Homosexuell sei er aber nicht, sondern „bi“. Er habe nie das Bedürfnis gehabt, sich Freunde oder Verwandte als potenzielle Mahlzeit vorzustellen. Dass alle seine Beziehungen, so vorhanden, sexuell befriedigend waren, mag Gutachter Baier nicht recht glauben. Meiwes bestreitet seine Beziehungsunfähigkeit. An ihm habe es nie gelegen, sondern an den Frauen, er habe Kinder und eine Familie gewollt, sie aber nicht.

Für Fälle wie Meiwes, scheint es, fehlt den Gutachtern Fachliteratur. Beide hielten ihn vor zwei Jahren für nicht therapierbar, möglicherweise weiterhin gefährlich. Sie hatten ihm trotz „schwerer seelischer Abartigkeit“ letztlich volle Steuerungs- und Schuldfähigkeit attestiert und damit die Entscheidung für die Strafhaft mit vorgegeben.

In Frankfurt machten sie ausgiebiger noch als in Kassel von ihrem Fragerecht Gebrauch. Näher sind sie dem Angeklagten dadurch bisher wohl nicht gekommen. Für seine eigene Sexualität fehlen ihm die Worte, seine Vorstellungen scheinen unausgeprägt, seine Sicht auf die Tat oberflächlich. Meiwes beharrt auf relativer Normalität. Ganz „legal“ sei sein Verhalten zwar nicht gewesen. „Dass das ein Tabu ist, dass man das nicht macht, war mir schon klar.“ Schlachten und Aufessen aber, habe er gedacht, sei „zwar nicht erlaubt“, aber strafrechtlich „folgenlos“. Das Verfahren wird heute fortgesetzt.