VERHASSTES ELEMENT
: Schnee im Ohr

friert vor dem Fernseher

ANDREAS RÜTTENAUER

Der kleine Andreas war ein schmächtiges Kerlchen. Arme wie Streichhölzer und die Beine auch nicht viel kräftiger. Lange war er nicht so richtig kontinent. Nicht dass er oft ins Bett gepieselt hätte, aber nicht selten hat er tagsüber den richtigen Zeitpunkt für den Toilettengang verpasst. Peinlich war ihm das vor allem, wenn er diese dämliche Kinderlederhose anhatte. Die hat den Urin immer so merkwürdig verfärbt. Und wenn dann die blau-grüne Soße über den nackten Teil seines Beines gelaufen ist, hat er nicht selten eine Watschn gekriegt. Beim Skifahren hatte er keine Chance. Da war die Hütte mit der Toilette eigentlich immer zu weit weg, wenn er endlich gemerkt hat, dass er muss. Aber da fand es der kleine Anderl nicht so schlimm. Aus dem Skianzug ist nichts rausgelaufen. Und ein bisschen angenehm war es auch, denn die warme Soße hat zumindest für ein paar Minuten die Kälte aus dem Bein vertrieben, über das sie in den Skistiefel gelaufen ist. Winter war schrecklich für das schwache Büblein. Und dann auch noch Wintersport!

Oft hat er sich gefragt, warum sein Vater ihm das eigentlich antut. Der Alte ist zum Viech geworden, sobald er Ski unter den Füßen hatte. Dass es Menschen gibt, die mit dem Winter nichts anfangen können, dafür hatte er kein Verständnis. Und nicht selten hat er unwirsch reagiert, wenn sich der Bubi Anderl mit für ihn völlig unverständlichen Fragen an ihn gewandt hat: Papa, kannst du mir den Schnee aus den Ohren machen? Oder, wenn es ihn wieder einmal geschmissen hat: Papa, kannst du mal nachschauen, ich glaube ich habe einen Leistenbruch? Nein, Skifahren war nicht schön für das arme Kind. Es hat den Schnee gehasst. Wozu die Quälerei? Damit der Andreas später, wenn er mal groß ist und selber Skiurlaub macht, die Möglichkeit hat, damit anzugeben, dass er sich das leisten kann? Eltern wollen immer das Beste für ihr Kind. Auch sein brachialer Skilehrervater?

Seit mehr als zwanzig Jahren ist Andreas nun schon ein erwachsener Mann. Wer seinen mächtigen Oberkörper mit dem wuchtigen Weißbierbusen sieht, kann sich nicht vorstellen, wie schmächtig er war, als er noch Anderl genannt wurde. Wenn er sich daheim in seinem privaten Olympiastüberl eine Halbe aufmacht und den Riesenslalom der Männer anschaut, muss er zurückdenken an die Zeit, in der er von seinem Vater auf die Piste geschleppt worden ist. Es schneit in Whistler. Schrecklich, denkt er. Dass er kein Mitleid mit den Rennläufern zu haben braucht, weiß er. Das sind genau solche Viecher, wie sein Vater seinerzeit eines war. Die stört das nicht, wenn sie Schnee in den Skistiefel bekommen. Die würde es nicht einmal stören, wenn sie Schnee in den Ohren hätten. Und dennoch kann er sich über die Übertragung nicht so recht freuen. Weil es schneit, friert es ihn beim Zuschauen, und obwohl er weiß, dass da nun wirklich kein Schnee drin sein kann, greift er sich bisweilen ans Ohr.

Andreas weiß aber auch, dass nicht einmal die professionellen Skifahrer es leiden können, wenn es schneit. Neuschnee ist für die Pisten schlecht und wird auch in den Loipen nicht gern gesehen. Am besten ist es, wenn der Schnee irgendwie schon da ist, bevor die Wettbewerbe beginnen. Sonst sorgt der Winter am Ende noch für irreguläre Bedingungen. Andreas denkt sich: Wenn nicht einmal die Wintersportler mögen, wenn es schneit, dann war ich vielleicht doch ein ganz normales Kind.