ENTSPANNTE SCHWEDEN
: Müssen wir erst kiffen?

Muttersein für Einsteiger

VON LUCIE MARSHALL

Die haben Wickeltische in den Herrentoiletten“, sagt Marc. Wir sind gerade in Stockholm gelandet und Marc ist mit Sam gleich auf die Toilette gerannt. Ein erstes Zeichen für die vielbeschworene Familienfreundlichkeit? Ich habe die zwei Wochen Urlaub in Schweden genutzt, um der Frage mal auf den Grund zu gehen.

Ein Abend ist für meine Studie besonders ergiebig. Wir sind auf einer Hochzeit eingeladen, in einer Gärtnerei. Alle haben ihre Kinder dabei. Es gibt massenhaft Möglichkeiten für Kinder, richtig Blödsinn anzustellen. Marc und ich scannen die Umgebung und verkrampfen uns schon mal prophylaktisch.

Wir sitzen neben Ida und Tomas, die ihren knapp zweijährigen Victor dabeihaben. Am Anfang benehmen sich beide Jungs vorbildlich. Aber nach 30 Minuten wird es öde. Sam nimmt seinen Strohhalm und bläst damit den Birnensaft in Richtung Victor, der das urkomisch findet. Und während bei mir der Stresspegel direkt in den roten Bereich hochjagt und ich Sam zurechtweise, höre ich Ida sagen: „Ja, das macht Spaß, was? Aber wie wäre es hiermit?“, und sie tauscht den Strohhalm gegen Malutensilien aus.

Mir ist meine Reaktion total peinlich. Was bin ich denn für eine verspannte Kuh? Atmen, Lucie! Ich bestelle mir noch ein Glas Wein und unterhalte mich mit Ida und Tomas. Victor ist mit 15 Monaten in die Kita gekommen. Ida ist nicht besonders zufrieden mit dem Betreuungsschlüssel (3 Erzieher auf 13 Kinder!!!), aber sie stellt es nicht infrage, dass Victor so jung schon den ganzen Tag in der Kita verbringt.

Aber ansonsten haben sie dieselben Sorgen wie wir: die Angst, als Eltern nicht zu genügen, das Generve mit den Betreuungsabsprachen, und die schlaflosen Nächte. Nur der „Verspannungspegel“ ist anders. Sie scheinen einfach grundentspannter, und vor allem integrieren sie die Kinder viel selbstverständlicher in ihren Alltag.

Während wir die Kinder auf der einen Seite, den Beruf auf der anderen Seite und dazwischen einen tiefen Graben haben, scheinen das die Schweden besser vereinen zu können. Da werden die Sorgen, die Schulden, die Freude, der Job und die Kinder zusammen gelebt und nicht getrennt. Ich frage mich, wie uns Deutschen das besser gelingen könnte. Anscheinend müssen wir nicht nur die Kitasituation dringend ändern, sondern vor allem in unseren Köpfen so einiges umstellen. Die Coolness der meisten Schweden erreichen wir wahrscheinlich nur nach einem gemeinsamen Joint. Das wäre vielleicht mal eine Alternative: Ein Massen-Sit-in. Auf jeden Fall würden man dann nicht mehr behaupten können, wir Deutschen seien zu verkopft.

■  Tanya Neufeldt alias Lucie Marshall schreibt hier über den zauberhaften Wahnsinn, der über uns hereinbricht, wenn frau Kinder bekommt. Vor allem, wenn frau sich an ein unabhängiges Leben gewöhnt hatte. luciemarshall.com