Immer den Graffiti nach

STADTFÜHRUNG Jenseits von Bauausstellung und Gartenschau: Bewohner der Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg zeigen auf Stadtführungen ihren Stadtteil – die schönen und die Schmuddelecken

Wandel. Dieses Wort klebt an der Elbinsel derzeit wie ein altes Kaugummi – und nicht jedem schmeckt’s

VON AMADEUS ULRICH

Sie prangen hier an Fassaden, Bänken und Plakaten. Graffiti, auch an der Bücherhalle, vor der die Gruppe kurz hält. „IBA=Verdrängung“, flüchtig auf das Mauerwerk gesprüht, doch so präzise, dass es mit einer Schablone gemacht worden sein muss. Gemeint ist die Internationale Bauausstellung, die wie die Gartenschau (IGS) dieses Jahr in Wilhelmsburg stattfindet. Viel Internationalität für Hamburgs Sorgenkind-Stadtteil mit seiner „verruchten“ Geschichte. Das sagt zumindest Bülent Kaplan, der hier seit Kindertagen lebt.

Er steht neben dem Farbklecks auf Beton, in einer Gasse, hinter ihm das Restaurant „Güven“, was auf Türkisch „Vertrauen“ bedeutet. Das hätten die Bewohner Wilhelmsburgs verloren, wenn es heißt – wie so oft in letzter Zeit – ihr Stadtteil befinde sich im Aufbruch. Sie seien nicht glücklich mit der Situation, sagt Kaplan, fürchteten sich vor der Gentrifizierung.

Seit Beginn von IGS und IBA wirkt es so, als habe Wilhelmsburg vorher nur am Rande existiert, sei ein unbekanntes Terrain gewesen, bekannt höchstens für eine hohe Arbeitslosenquote, viele Migranten – und nun wachgeküsst vom internationalen Flair. Fast täglich berichtet etwa der NDR „live aus Wilhelmsburg“ und die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte die Gartenschau gar die Entdeckung eines ganzen Stadtteils.

Bülent Kaplan schüttelt den Kopf, wenn er das hört. Seit einem Jahr macht er schon Rundgänge hier durch das Reiherstiegviertel. An diesem Sonntag ist es die Tour „Moin moin Wilhelmsburg“, organisiert von Elbinselguide, einem jungen Unternehmen, gegründet von vier Ur-Wilhelmsburgern.

Eine davon ist Sanja Buljan. „Wir zeigen Wilhelmsburg, wie’s wirklich ist – auch die dunklen Ecken“, sagt die Frau mit der großen Sonnenbrille einige Minuten vor Beginn des Rundgangs. Sie sitzt einen Steinwurf vom Stübenplatz entfernt in einem Café, vor ihr Latte macchiato und neben ihr an der Fassade erneut ein Graffito: „IBA – we can stop it“.

Gewiss sei viel geschehen in Wilhelmsburg in den letzten Jahren, sagt Buljan. Inzwischen könne man überall ein Bier trinken, ohne über die Elbe zu müssen. „Trotzdem war unsere Heimat schon immer schön, die IBA zeigt ja nur das Neue. Die Behauptung, sie rette Wilhelmsburg, ist Bullshit.“

Zum alten Wilhelmsburg gehört der Stübenplatz, wo der Rundgang beginnt. Hier gibt es zweimal die Woche einen Markt, frisches Obst in Fülle, der Imbiss an der Ecke verkauft Currywurst und alle Wilhelmsburger finden zusammen. An dem Platz steht das alte Deichhaus, das früher ein Milchgeschäft und ein Feinkostladen war. Heute treffen sich dort Rentner und Arbeitslose und stehen bis auf die Straße, erzählt Bülent Kaplan. Denn in dem Gebäude ist seit 1994 die Wilhelmsburger Tafel.

Kaplan spricht laut und deutlich, man merkt, dass er das nicht zum ersten Mal macht. Er ist Reiseleiter für Stadtteilfahrten in Hamburg, die Rundgänge in Wilhelmsburg macht er nebenbei. Doch ist er ein Quereinsteiger. Kurz hat er Grafikdesign studiert, war in der Werbebranche tätig, angestellt bei einer Agentur; doch nur ein halbes Jahr. Es gefiel ihm nicht, morgens ins Büro zu müssen. Ein Freund fragte ihn, ob er Reiseleiter werden wolle.

Nun rattert er ohne Notizen Fakten herunter und erzählt wie aus einem Geschichtsbuch. Ein echter Experte, zumindest für Wilhelmsburg. Als er vier Jahre alt war, zog seine Familie aus Paderborn hierher. Weg wolle er nicht mehr, sagt Kaplan. „Ich bin mit Wilhelmsburg verbunden.“

Genau wie das wiederbelebte „Rialto“, des Stadtteils ältestes Kino, die nächste Station der Führung. Eigentlich hätte es schon längst abgerissen werden sollen. Der rote Putz der Fassade bröckelt, das Haus ist marode, das Plakat war mal weiß, doch drinnen laufen noch Filme, James Bond etwa. Die Elektronik knackt und surrt, es gibt sogar Popcorn. Im Gästebuch steht: „Bitte bleibt!!! Das ist ein tolles Kino.“ Doch ist das Bitten wohl vergeblich, nur durch Spenden kann es von Mai bis Oktober geöffnet haben, dann muss es schließen. Es bräuchte, erzählt Bülent, etwa eine Million Euro, um das Kino zu renovieren – doch ein Investor findet sich nicht.

Anschließend wandert die Gruppe Richtung Elbe, zu den Deichen, die Europas größte Flussinsel umranden wie eine Stadtmauer. „Oh, die Schafe sind da“, sagt Kaplan. „Ich riech’ sie.“ Auch ihr Blöken hört man. In der dezent nach Schafdung duftenden Luft kreisen Möwen, allerorten sprießt Grün. „Ohne Deiche kein Wilhelmsburg“, murmelt Kaplan. „Die Elbe würde sich sonst alles zurückholen.“ Wie damals bei der Sturmflut im Februar 1962, bei der in Wilhelmsburg über 200 Menschen ums Leben gekommen sind. Die Bundeswehr kam damals zu Hilfe, im Inland. Eigentlich war das verfassungswidrig und die Entscheidung des damaligen Polizeisenators und späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt ist bis heute umstritten. In Wilhelmsburg allerdings bewundern sie ihn dafür. „Da war uns die Verfassung schnuppe.“

Wo Deiche sind, ist eine Schleuse nicht fern, in diesem Falle jene über den Ernst-August-Kanal. In der Ferne sieht man die Kräne des Hafens, Kirchtürme und die Elbphilharmonie. Ein Blick nach rechts offenbart drei Windräder. Links steht das alte Zollamt, das erst dieses Jahr geschlossen worden ist; erahnen kann man die Stacheldrahtzäune, die Schmuggler fernhalten sollten, die Waffen und Rauschgift hier in Wilhelmsburg über die Grenze bringen wollten. „Es gibt hier viel verborgene Geschichte und schöne Orte“, sagt Kaplan.

Wie zum Beispiel die Soul Kitchen, eine Halle im Industriegebiet, etwa zehn Gehminuten von der Schleuse entfernt; durch den gleichnamigen Film des Hamburger Regisseurs Fatih Akin genießt sie eine gewisse Berühmtheit. Schon von Ferne hört man Klaviermusik und Stimmengewirr. Vor der Seelenküche sitzen dutzende Menschen in der Sonne, trinken Bier, essen Crêpe; drinnen findet ein Benefizabend statt, für arme Kinder des Stadtteils.

Doch kann die Reisetruppe nur kurz bleiben; zwei Stunden ist sie schon unterwegs. Weiter geht’s in den Sanitaspark hinter der Honigfabrik, hier sitzen Studenten im Gras und grillen. Die Mülleimer quillen über.

Die Gruppe kommt auch an vielen Baustellen vorbei. Sie geht über den Platz an der Mannesallee, auf dem sich die Jugend Wilhelmsburgs trifft, hin zur Emmauskirche; das Schritttempo wird schneller, die Zeit ist flugs verronnen. Ganz in der Nähe steht auch eine kleine Moschee. Vor neun Jahren war dies noch eine Kirche, aber niemand ging hin. Zu wenig Christen in der Gegend. „Das zeigt den Wandel der Zeit, auch den von Wilhelmsburg“, sagt Bülent Kaplan.

Wandel. Dieses Wort klebt an der Elbinsel derzeit wie ein altes Kaugummi – und nicht jedem schmeckt’s. Der Rundgang neigt sich dem Ende zu. Vorbei an einem türkischen Dampfbad und einem Angelladen geht es zurück auf den Stübenplatz. Das also ist Wilhelmsburg, zumindest ein essenzieller Teil davon. Von der IBA und der IGS hat man kaum etwas mitbekommen. Erst nach drei Stunden prangt in der Nähe des S-Bahnhofs das erste offizielle Plakat. An einer Brücke, kaum erreichbar für Spraydosen. So steht dort mal nicht „Fuck off!“

Weitere Informationen unter www.elbinselguide.de