Tage des gesteigerten Daseins

ERSCHEINEN Eine Pilgerfahrt dahin, wo alles Wünschen und Hoffen aufhört: Eugen Ruges neuer, kleiner, kontemplativer Roman „Cabo de Gata“

Solche Bücher können unglaublich kitschig werden. „Cabo de Gata“ ist überhaupt nicht kitschig

VON DIRK KNIPPHALS

Zu den schwierigsten Aufgaben der Literatur gehört es, tiefe, transzendente Momente darzustellen. Man darf solche Momente nicht einfach beschreiben, man muss sie erscheinen lassen.

Der Philosoph Martin Seel hat das in seinem Ästhetikbuch „Die Macht des Erscheinens“ gut erklärt. „Die entscheidende Differenz der ästhetischen Wahrnehmung zu aller theoretischen und praktischen Sondierung“ ist, sagt Seel: „sie lässt uns einen Sinn für die vergehende Gegenwart des Lebens gewinnen.“ Und weiter: „Wir nehmen hier keine andere als die Welt der sinnlichen Objekte wahr, aber wir nehmen sie durchaus anders wahr: mit einem gesteigerten Gefühl für das Hier und Jetzt der Situation, in der sich die Wahrnehmung ereignet.“

Sinn für vergehende Gegenwart, gesteigertes Gefühl für das Hier und Jetzt – das sind Stichworte, die gut auf Eugen Ruges neuen, kleinen, kontemplativen Roman „Cabo de Gata“ passen. Cabo de Gata ist ein kleiner Ort im Süden Spaniens, auf Deutsch: Kap der Katze, schon mit diesem Ortsnamen ist man drin im literarischen Spiel. Dorthin lässt Ruge, der Buchpreisträger von 2011, etwa Mitte der Neunziger einen Aussteiger aus Prenzlauer Berg reisen, fliehen und irgendwo auch pilgern (er weiß es selbst nicht so recht). Arbeit, Wohnung, Krankenkasse hat er gekündigt. Eine Trennung liegt hinter ihm. 123 Tage lang versucht er, dort einen Roman zu schreiben. Was misslingt. Dafür begegnet er – ja, was eigentlich? Sich selbst. Der Weite der Welt. Einigen Bewohnern und anderen Reisenden. Seiner toten Mutter in Gestalt einer Katze. Von einer als „Weltbegegnung vollzogene Selbstbegegnung, der es um nichts weiter als diese Begegnung geht“, spricht Martin Seel noch aus anderem Anlass. Es trifft auch hier.

Man darf dieses kleine Buch nicht beschweren. Auf gar keinen Fall darf man es als Umsetzung eines Programms lesen, auch nicht einer Ästhetik des Erscheinens. Eher ist es der Versuch, ein Versprechen einzulösen, das die Literatur mit sich führt und das auch dieses Programm trägt: dass man in ihr einen Ton treffen könne, in dem sich die Geschichte, redlich, rein, von selbst erzählt.

Gespräche über Literatur, Peter Handke, Henry Miller – das alles kommt vor. Vor allem aber steuert das Buch auf einen mythischen Punkt zu: auf den Punkt, in dem das Hoffen und Wünschen aufhört und man dann wirklich bei sich und seiner Erfahrung in dieser Welt ist – die man dann aber nicht einfach fassen und abgreifen kann, die einen aber für einen Moment verwandelt hat.

Solche Bücher können unglaublich kitschig werden (bei Handke kippen solche Momente des Erscheinens oft in einen erpressten Verkündigungston). „Cabo de Gata“ ist überhaupt nicht kitschig. Spätestens beim zweiten Lesen merkt man auch, wie genau es gebaut ist. Ein formelhaftes „Ich erinnere mich“ durchzieht den Text. Nachvollziehbar wird die Bewegung von Ostberlin über Barcelona bis nach Cabo de Gata beschrieben, mit wenigen Strichen werden die Bewohner skizziert. Der wiederkehrende Dialog „Mucho trabajo“ – Poco pescado“ (Viel Arbeit – Wenig Fische) zwischen dem Ich-Erzähler und einem Fischer bleibt im Ohr: die ganze Mühsal des Daseins in vier Wörtern. Es gibt schöne Beschreibungen, etwa von den „hysterischen Tanten“: Strandvögel, die immer exakt kurz vor den Wellen den Strand hoch- und hinunterlaufen. Und geschickt fängt Eugen Ruge die Zeiterfahrung ein: das Hineinrutschen in eine ständige Wiederkehr aus Mahlzeiten, Spaziergängen, Schreibversuchen und Sonnenuntergängen.

In vielem gleicht der Ich-Erzähler seinem Autor. Auch er hatte nach komplizierter Ostbiografie und prekären Nachwendejahren einen späten, großen Erfolg (einen „sogenannten Erfolg“ steht im Buch), so wie Ruge mit „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. In „Cabo de Gata“ nimmt das Licht allerdings zu, jeden Tag um eine Minute; es wird Frühling. Aber es hätte sowieso etwas hilflos Korinthenkackerisches, diesen Roman auf Autobiografie hin zu lesen. Vielmehr hängt alles an dem Ton. Eugen Ruge nimmt mit diesem Buch einen Faden wieder auf, den einer literarischen Empfindlichkeit.

Das hat vielleicht etwas leicht Altmodisches, aber auch schön Gewagtes und gut Gemachtes. Und am Schluss bringt das Buch einen – gesteigertes Dasein im Unscheinbaren – mit fünf, sechs Sätzen über einen achtlos in einer Pfütze sterbenden Rochen, der zu klein ist, um auf dem Markt verkauft zu werden, fast zum Heulen.

Eugen Ruge: „Cabo de Gata“. Rowohlt, Reinbek 2013, 204 Seiten, 19,95 Euro