DISKUSSION
: Soll es das G 9-Abitur wieder an Gymnasien geben?

NEIN VON JAN KAHLCKE

Neunjähriges Gymnasium? Kommt nicht in die Tüte. In neun Jahren kann man das Abitur ja erwerben: in Stadtteilschulen, Gemeinschaftsschulen und Gesamtschulen. Dieser langsamere Weg mit weniger Leistungsdruck ist der Trumpf, den diese Schulen in der Konkurrenz um leistungsstarke Schüler gegenüber den Gymnasien haben.

Das Gymnasium dagegen ist die Eliteschule für besonders Begabte, die mit dem achtjährigen Weg zum Abitur kein Problem haben. Das war die Geschäftsgrundlage bei der Abschaffung der Realschule. Die SPD hat sich das klassisch-sozialdemokratische Modell einer flächendeckenden Gesamtschule abhandeln lassen – mit der Zusage, dass die Realschulen nicht mit Haupt- und Förderschulen zu einer Restschule nach unten wegfusioniert würden. Voraussetzung dafür ist, dass die neuen Schulformen eine klare Aufstiegsperspektive bieten, mit starken Oberstufen an allen Standorten. Die können aber sofort zumachen, wenn die Gymnasien ihnen künftig die Abitur-Kandidaten mit einem G 9-Zweig abwerben.

Wird der Streit ums Schulsystem nun dem Rücken der Gymnasiasten ausgetragen? Das entscheiden ihre Eltern ganz allein. Sie haben auf den Erhalt des Gymnasiums pur bestanden und dafür in Hamburg sogar die sechsjährige Primarschule gekippt. Wenn sie nun auch Kinder aufs Gymnasium zwingen wollen, die damit überfordert sind, legen sie offen, um was es ihnen geht: Sie wollen das Label „Gymnasium“ – als Distinktionsmerkmal. Auch wenn das Gymnasium dafür aufgeweicht werden muss.

JA VON KAIJA KUTTER

Die Lernbiografien vieler Kinder haben sich in den letzten Jahren stark beschleunigt. 40 Prozent eines Jahrgangs machen das Turbo-Abitur, für Jungen fällt der Zivildienst weg, das Studium wurde verkürzt. Das erzeugt Druck, den die Eltern abfangen müssen.

Doch auf Kritik am Turbo-Abitur wird von der Politik moralisch gekontert. Motto: Ihr seid ja selbst Schuld, wenn ihr euer Kind aufs Gymnasium schickt statt zur Stadtteilschule. Hier sind viele Eltern im Dilemma. Eine einmal getroffene Schulwahl in Klasse 4 nimmt ihnen das Recht, sich zu beklagen.

So kommt der offene Protest nur aus der Ecke jener Eltern, die keine Scheu haben, explizit für ihre Kinder das Gymnasium zu fordern. Dabei zeigen Umfragen, dass eine Mehrheit unzufrieden ist, wobei sich die Lage in den Ländern unterscheidet. Den Gymnasien das G 9 zurückzugeben kann in Niedersachsen sinnvoll sein, in Hamburg wäre so eine Maßnahme isoliert problematisch. Aber das Turbo-Abitur gehört auf den Prüfstand – ebenso wie das Zwei-Säulen-Modell mit Stadtteil- oder Gemeinschaftsschule und Gymnasium.

Jedes Kind sollte die Zeit haben, die es braucht, um seine Fähigkeiten zu entfalten – das gilt auch für jene, die nicht das Abitur anstreben. Ein Dialog auf Stadtteilebene wäre sinnvoll, um vor Ort die richtigen Lösungen zu finden. Da kann auch ein Gymnasium wieder G 9 werden, wenn es sich für eine breitere Schülerschaft öffnet. Sympathisch ist das Modell der Waldorfschulen, die allen Kindern zwölf Jahre Curriculum bieten. Wer dort Abitur macht, lernt dafür im 13. Jahr.