Auf die Armut folgt der Ausverkauf

WIRTSCHAFTSKRISE Was Griechenland vor sich hat, macht Lettland schon durch. Das Land ist pleite und hängt am Tropf des IWF. Milliardenkredite gibt es nur unter strengen Auflagen

Sozialleistungen sanken radikal, es gab Massenentlassungen und Lohnkürzungen

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Lettland erlebt einen Winter, der so kalt und schneereich war wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch tiefgefroren ist der einstige „baltische Tiger“ nicht nur aus meteorologischen Gründen. Im vierten Quartal des letzten Jahres erlebte die Wirtschaft mit einem Minus von 18 Prozent die tiefste Rezession aller 27 EU-Staaten. In den vergangenen zwei Jahren ging die Wirtschaftsleistung gar um über 25 Prozent zurück – ein tieferer Einschnitt, als sie den USA die Depression zu Beginn der 30er-Jahre gebracht hatte, meldet das Center for Economic and Policy Research in Washington. Und nahezu jedeR Vierte im Land ist jetzt arbeitslos. Ebenfalls ein EU-Rekord.

Die Leute haben kein Geld mehr. Plakate mit Texten wie „70 Prozent Rabatt“, „Ausverkauf“ oder „Zu vermieten“ in vielen Schaufenstern der Geschäftsstraßen Rigas legen ein Zeugnis von den Auswirkungen des zusammengebrochenen Konsums ab. Wo vor einigen Monaten noch ein teurer Modeladen seine Waren anbot, wird jetzt Konkursware verhökert. Dass die Menschen sich nur noch das Notwendigste leisten können, schlägt sich zumindest in der Wirtschaftsstatistik in einer Erfolgszahl nieder. Lettland konnte erstmals seit vielen Jahren wieder eine positive Handelsbilanz vermelden.

Dahinter steckt ein Rückgang der Importe – und das sind vor allem Konsumgüter – um 38,4 Prozent. Und der Exportüberschuss ist einem radikalen Abholzen der Wälder geschuldet. Holz ist eine Hauptausfuhrware. Nach den ökologischen Folgen des Kahlschlags fragt derzeit allerdings niemand.

„Das Reformprogramm wirkt“, beschönigt Staatspräsident Valdis Zatlers die Lage: „Noch vor einem Jahr haben das viele Experten für unmöglich gehalten.“ Das Programm bestand aus einer Kette von Budgetkürzungen. Es gab Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und Lohnkürzungen von teilweise 40 Prozent. Die Sozialleistungen wurden radikal gesenkt, so massiv, dass das Verfassungsgericht dies kurz vor Weihnachten bezüglich der Renten für verfassungswidrig erklärte. Ein weiteres Gerichtsverfahren zu den Kürzungen beim Kindergeld ist derzeit anhängig.

Doch bis auf ein Dutzend zeltende Langzeitdemonstranten vor dem Regierungssitz, die bis zu den Parlamentswahlen im Oktober durchhalten wollen, protestiert derzeit in Lettland praktisch niemand. Ganz anders war es vor einem Jahr, als Massenproteste die damalige Regierung zum Rücktritt zwangen. Da brachte die LettInnen die Wut darüber auf die Straße, mit neoliberalen Versprechungen vom schnellen Wohlstand für alle betrogen worden zu sein – und plötzlich nur noch mit einem Haufen Schulden und einer kollabierten Wirtschaft dazusitzen. Ein Crash im Übrigen, der durch die weltweite Finanzkrise nur beschleunigt wurde – und der über kurz oder lang wohl auch so gekommen wäre.

Im Herbst hatte es dann noch mehrere Demonstrationen von LehrerInnen, ÄrztInnen und Pflegepersonal gegeben – Beschäftigte in von den Kürzungen besonders betroffenen Branchen. Seitdem ist es ruhig. Die Älteren sind aus Sowjetzeiten Mangelwirtschaft gewohnt, viele Jüngere haben das Land verlassen. Und gegen wen sollten sie auch demonstrieren? Die Regierung ist nur eine Marionette des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Ältere kennen die Mangelwirtschaft aus Sowjetzeiten, viele Junge verließen das Land

Der hat ein faktisches Vetorecht gegen alle Parlamentsbeschlüsse, die neue Staatsausgaben verursachen würden. Die Budgetkürzungen hat er zur Voraussetzung für die ratenweise Auszahlung der Milliardenkredite gemacht, durch die Lettland vor dem Staatsbankrott gerettet wurde.

Die Alternative zur „inneren Abwertung“, wie dieser Rotstiftkurs genannt wird, könnte eine Abwertung der überbewerteten Währung Lats sein. Das wäre für die große Mehrheit der LettInnen die wesentlich weniger schmerzhafte Alternative. Doch diesen Weg hat die EU auf Druck Stockholms bislang blockiert. Die schwedischen Banken, die den Kreditboom, auf dem das Wachstum des lettischen „Tigers“ vor allem gründete, angefeuert hatten, würden sonst ins Trudeln gekommen.

Das Gefühl, von der Europäischen Union im Stich gelassen und nicht die eigentlich mögliche und erforderliche Hilfe bekommen zu haben, ist weitverbreitet in Lettland. Die Kredite von EU und IWF entsprechen mehr als einem kompletten Staatshaushalt. Sie werden dazu führen, dass die Staatsverschuldung, die 2007 gerade 7,9 des Bruttoinlandsprodukts betragen hatte, bis 2014 auf 89 Prozent wachsen wird – im optimistischsten Szenario. Zwar sind auch andere EU-Länder tief verschuldet. Doch die sind es aufgrund großzügiger Konjunkturprogramme. Für die fehlen Lettland aber Konzepte und Geld.