Hartz IV überfordert Richter

Die Arbeitsmarktreform hat den Sozialgerichten in NRW im vergangenen Jahr 15.000 Klagen eingehandelt. Die Justiz rechnet 2006 mit einem weiteren Anstieg und fordert zusätzliche Richter

AUS DORTMUND NATALIE WIESMANN

Seit die Arbeitsmarktreform Hartz IV in Kraft ist, arbeiten die nordrhein-westfälischen Sozialrichter im Akkord: Jeder der 179 Richter musste 2005 mindestens einen Fall am Tag bearbeiten. Knapp 77.000 Fälle hatten die acht Sozialgerichte in NRW zu entscheiden, jedes fünfte Verfahren bezog sich auf Regelungen von Hartz IV. „Wir rechnen 2006 mit einem weiteren Anstieg“, sagte Jürgen Brand, Präsident des Landessozialgericht, gestern in Essen. Schon im Dezember forderte er die Einstellung von über 20 weiteren Richtern.

Die meisten Klagen richteten sich gegen die Anrechnung von Vermögen auf das Arbeitslosengeld II. Auch gegen die Verrechnung von Partner-Einkünften in Bedarfsgemeinschaften – also Haushalten, in denen mindestens ein Mitglied Arbeitslosengeld II bezieht – habe es zahlreiche Einwände gegeben, so Brand.

Die Zahl der Klagen verteilt sich jedoch nicht gleichmäßig auf alle Gerichte: Während das Sozialgericht Dortmund im Rahmen von Hartz IV 1.800 Einwände zu bearbeiten hatte, waren es in Münster nur knapp über 500. Das hänge zum Teil mit der Größe des Bezirks zusammen, so Brand, „aber natürlich auch mit der unterschiedlich hohen Arbeitslosenquote.“

Jeder dritte Arbeitslose war mit seinem Einspruch erfolgreich. Damit läge NRW im Bundesdurchschnitt, so Brand. Er regt sich darüber auf, dass Medien wie der Spiegel, über „sozial bewegte Richter“ schreiben, die maßgeblich für die finanzielle Mehrbelastung durch Hartz IV verantwortlich seien: „Das entspricht einfach nicht den Tatsachen.“

Dass der Präsident des Landessozialgerichts eine zu große Milde von sich weißt, ist durchaus berechtigt: Wenn sein Gericht im vergangenen Jahr in zweiter Instanz zu entscheiden hatte, fiel der Beschluss meist zu Ungunsten der Arbeitslosen. So bestätigte das Essener Gericht eine Entscheidung des Kölner Sozialgerichts, dass Arbeitslose bei unangemessenen Kosten nicht in einem begehrten Wohnbezirk bleiben müsse, sondern auch in preiswertere Stadtgebiete ziehen könnten. Auch der Beschluss des Sozialgerichts Aachen, dass die Arbeitsgemeinschaften (ARGE) nicht offene Stromschulden begleichen müssen, wurde vom Landessozialgericht bestätigt. Regelmäßig kippten die Essener Richter dafür die Entscheidungen des vergleichsweise arbeitslosenfreundlichen Sozialgerichts Düsseldorf.

Im ersten Jahr der Hartz-IV-Gesetzgebung seien einige wesentliche handwerkliche Mängel deutlich geworden, kritisierte Brand. So hoffe er, dass bei der bevorstehenden Optimierung von Hartz IV etwa die „Entsolidarisierung zwischen Eltern und Kindern“ zurückgenommen würde. Tausende von Kindern seien zu Hause ausgezogen und hätten eigene Ansprüche auf Arbeitslosengeld II angemeldet. „Das geht alles auf Kosten der Steuerzahler“, so Brand.