berliner szenen Nachhilfe am Bahnsteig

Pinochets Chile

Ich stand am Bahnhof Friedrichstraße und würgte eine dieser wächsernen Schinkenkäsestangen hinunter. „Buenos dias!“ Vor mir stand ein Mann Mitte fünfzig, der mit seinem Blindenstock an meine Reisetasche gestoßen war. An seiner Hand hielt sich sein kleiner Sohn fest, der munter zu mir aufblickte. „Moin!“ Ich musterte gerade die wüst vernarbten Augenhöhlen des Vaters und überlegte, durch was für einen Unfall er wohl erblindet sein mochte, als er mich plötzlich fragte: „Was essen Sie da?“

Wir kamen ins Gespräch. Nachdem ich ihm seine Zugverbindung herausgesucht hatte, wechselten wir bereits ins Spanische. Er gab sich als Chilene zu erkennen, und ich fragte ihn, wieso er denn bloß ins kalte Deutschland ausgewandert sei. Um noch etwas Nettes zu sagen, sprach ich von einem Freund, der jahrelang in Chile gelebt hatte und unbedingt zurückwollte, weil es ihm dort so gut gefiel. Das müsse ja im Gegensatz zu Deutschland ein ganz tolles Land sein, in dem ich selbst leider noch nie gewesen sei!

„Ich hatte Probleme mit der Diktatur Pinochets“, schlug mir die freundliche Antwort fest ins dumme Gesicht. „Viele Deutsche mögen das Land, ich weiß. Es gibt hier sogar Politiker, die bis heute offen für Pinochet Partei ergreifen.“ Während der Zug einfuhr und ich mich fast verschluckte, sagte der Vater nur: „Es la vida“, und zuckte die Achseln.

Ich starrte in sein verunstaltetes Gesicht und stammelte etwas wie „Ja, sicher“ und „Que todo vaya bien“. „Die Einstiegstür befindet sich in der Richtung“, wollte ich wenigstens noch einmal hilfsbereit sein. „Nein danke, ich steige lieber am Zugende ein“, lächelte der Mann freundlich zurück, nahm seinen Sohn an die Hand und verabschiedete sich.

JAN SÜSELBECK