berliner szenen Der Arzttermin

Morgendliche Hypnose

Es ist zehn vor acht, als ich die Gynäkologenpraxis an der Schönhauser Allee betrete. Die Sprechstunde beginnt erst um acht, trotzdem lässt mich die füllige Frau an der Anmeldung herein. Sie bittet mich freundlich, aber mit durchdringender Stimme, Platz zu nehmen.

Allmählich wird es draußen hell, ich blättere in einer Sommerausgabe der Brigitte. Die Uhr an der Wand tickt, immer langsamer scheint sich ihr Sekundenzeiger zu bewegen. Punkt acht werde ich von einer Schwangeren aus der Hypnose gerissen. Sie trägt Stiefel über den Jeans und setzt sich mir gegenüber.

Eine halbe Stunde später ist das Wartezimmer voll. Der Doktor ist immer noch nicht im Hause, aber „streiken tun wir nich’“, versichert die Rezeptionistin. Ein Mann mit einer zierlichen Asiatin am Arm betritt die Praxis. Seine Frau spreche nicht so gut Deutsch, und falls es Übersetzungsschwierigkeiten gäbe, wäre er über das Handy zu erreichen, erklärt er der Sprechstundenhilfe. Einige Jungmütter nicken verständnisvoll. „Um was jeht it denn?“, fragt die Empfangsdame laut. „Herpes simplex oder so was“, sagt der Mann gedämpft. Ich ertappe ein paar Frauen, wie sie schnell den Blick senken und angestrengt in ihren Zeitschriften blättern.

Der Doktor erscheint gegen neun Uhr, und als Erstes wird die Asiatin ins Behandlungszimmer gebeten. Ich bin die Nächste. Nach fünf Minuten verlasse ich die Praxis mit einem Rezept, das ich in der Apotheke an der Ecke einlösen will. Die Asiatin aus dem Wartezimmer kommt aus der Apotheke heraus, als ich diese betrete. Ich reiche mein Rezept über den Tresen. Die Apothekerin schaut mich bedauernd an und sagt: „Davon habe ich das Letzte gerade verkauft.“

MAREIKE BARMEYER