Auf der Suche nach dem Herz Europas

Diese Woche zählt! Der Stern betüttelt die Vierzigjährigen, die Zeit fragt, ob wir rechnen können, und der Freitag feiert das Jahr 1963 beziehungsweise fünfzig Jahre „moderne Zeit“.

Auf der Suche nach gesellschaftlich relevanten Zahlen gelangt man ausgerechnet zur Seite 1 der Bild und den 500 Euro, die Italien „Afrika-Flüchtlingen“ schenkt, damit sie „zu uns“ kommen, genauer: nach Hamburg.

Bei solchem Nummernfuror begibt man sich doch gern ins geistige Exil, will aber natürlich dem Thema nicht ausweichen. Der Consiglio Italiano per i rifugiati (CIR), eine Organisation, die unter dem Patronat des Flüchtingshilfswerks der UN in Italien agiert, hat die Angelegenheit in einer Presseerklärung auf einen einfachen Nenner gebracht: Man kann eine Menge Kritik am italienischen Asylsystem üben – aber bitte die richtige. Seit April 2011, als die Flüchtlingswelle aus Nordafrika einsetzte, seien in Süditalien temporäre Aufnahmezentren mit 22.000 Plätzen geschaffen worden, die dann nach diversen Verlängerungen im Februar 2013 geschlossen wurden. Die Flüchtlinge hätten bereits im November 2012 aus humanitären Gründen eine juristisch unanfechtbare – was auch das deutsche Innenministerium bestätigt – Aufenthaltsgenehmigung für den Schengenraum und eben die berühmten 500 Euro erhalten, mitnichten aber die Aufforderung, sich nach Deutschland oder gar ins regnerische Hamburg zu begeben.

Problematisch, sagt CIR, sei vielmehr eine andere Zahl, nämlich jene 25.000 Euro, die der italienische Staat pro Flüchtling ausgegeben habe, mit dem einzigen Resultat, dass diese nun wieder nach Italien zurückgeschickt werden: Ein würdeloser Kreislauf, ohne Integrationserfolg, eine Metapher, könnte man sagen, auf ein so plan- wie herzloses Europa, das uns auch auf anderen Politikfeldern zu oft begegnet. Da wundert es einen dann nicht, wie der Bericht der Tageszeitung Il fatto quotidiano über die sogenannte „Alternative für Deutschland“ (AfD) von den Lesern aufgenommen wird: Die meisten Kommentatoren des Artikels wünschen sich eine temporäre deutsche Staatsbürgerschaft, um die AfD wählen zu können – denn sie will ja erreichen, das Italien und andere „Südländer“ aus dem Euro ausscheiden.

Und eben das wollen in Italien auch viele, nicht nur die „Grillini“, also die Anhänger der 5-Sterne“-Protestbewegung, die nach dem Höhenflug auf über 25 Prozent im nationalen Parlament bei den Kommunalwahlen am vergangenen Wochenende arg gestutzt wurde. Ihr Chef Beppe Grillo, der in seinem Leben – mit Verlaub – schon manchen Scheiß geredet hat, sagt aber die Wahrheit, wenn er die Wähler in eine Gruppe von Beamten, Pensionären und anderen Versorgungsempfängern (Politikern) einteilt, die an der Erhaltung des Status quo interessiert sei, und eine andere, mittelständische Gruppe, die mit ihrem sauer privatwirtschaftlich verdienten Geld und den fälligen Steuern diese finanzieren beziehungsweise als junge Massenarbeitslose ohnehin von den Fleischtöpfen ferngehalten werden. Klingt vertraut.

Die zunehmende Verzweiflung der zweiten Gruppe erklärt die Wahlenthaltung und den aus ihr folgenden Erfolg der Altparteien, nicht aber den Flop von M5S. Das Ergebnis ist trotzdem klar: Heute regiert zwischen Alpen und Sizilien wieder die bewährte Staatspartei, deren Namen die Jungen gar nicht mehr kennen, deren Mitglieder sich aber in einer großen Koalition wiedergefunden haben: die gute, alte, maximal korrupte Democrazia Cristiana.

Und während in Italien sich also wieder mal alles verändert, damit alles so bleibt, wie es ist, geschieht natürlich doch immer etwas: Franca Rame ist tot. Was hat sie durch ihr künstlerisches, politisches, feministisches Wirken erreicht? Größte öffentliche Anteilnahme, gewiss; aber auch ultrarechte Parlamentsabgeordnete, die ihren Tod freudig betwittern; und eine Moderatorin der RAI-Nachrichtensendung „TG2“, die in die Kamera sagt, Franca Rame sei deswegen 1973 von Neofaschisten vergewaltigt worden, „weil sie schön war“.

Solch aggressive Dummheit hätte auch von Silvio Berlusconi stammen können, der nun via Internet tapfere Soldaten für sein „Heer der Freiheit“ sucht, das ihn gegen die bösen Staatsanwälte verteidigt, die seine politische Karriere beenden wollen. Zeit wär’s. Aber wahrscheinlich wird B. zum Paten der italienischen Politik werden wie der alte Verbrecher Giulio Andreotti, der es auf 94 Jahre brachte – Berlusconi wird dieses Jahr gerade mal 77. Ist denn gar kein Entkommen vor der ausgezählten, der vermessenen Welt? Sollen wir uns ins Dämmerlicht der Krankeit flüchten? Aber ach, dort eben leidet der Kollege Daniel Schulz, der turnusgemäß diese Woche hier den Faden hätte aufnehmen sollen – auch jenseits der 39 Grad ist die Welt keine bessere. AMBROS WAIBEL

INES KAPPERT