JUNGE FRAUEN, PREUSSISCHE BASSDRUMS, KINDISCHER TROTZ UND GRIECHISCHE KÜNSTE
: Schwarze Schlacke wartet

VON ULRICH GUTMAIR

Das schmale Band des sogenannten „freigeräumten Wegs“ sah im gelben Licht der Laternen aus wie dunkelgraue Schlacke. Es war rutschig, sodass ganz am Ende des langen Tages und der halben Nacht ein schneller, kurzer Sturz den Nachhauseweg unterbrach. Geschneit hatte es, sehr kalt war es gewesen, gefroren war der Schnee über Wochen hinweg. Dann war die Schlacke, die mit Schichten von Streusalz Tag für Tag aufs Neue begehbar gemacht werden sollte, geschmolzen, wieder gefroren, erneut geschmolzen und endlich wieder gefroren. Nun sah sie aus wie die Spur eines eiskalten Vulkans.

Wochenlang dauerte der Winter schon, und fast ebenso lang plagte den Körper und alsbald auch den Geist die Erkältung, die pünktlich zu Weihnachten mit einer Erkrankung angefangen hatte, die den überall ausführlich beschriebenen Symptomen der Schweinegrippe bis aufs I- Tüpfelchen geglichen hatte. Fast war es überstanden gewesen, als alles von vorn begann – bis auf das Fieber. Schuld waren irgendwelche Killerviren aus der Kita.

Die letzte edle Wilde

In solchem Zustand Clubs aufzusuchen, ist Ausdruck kindischen Trotzes, wenn nicht leiser Verzweiflung, angetrieben vom Wunsch, wenigstens für einen Moment am Leben teilzunehmen, und nicht nur die Kraft aufzubringen, die tägliche Arbeit zu erledigen, um sich dann wieder erschöpft hinzulegen. Der Überschuss wollte genossen werden, der Exzess, den alle jetzt im Munde führten, wie in der Zeitung berichtet wurde.

Um zu beweisen, dass er noch da war, hielt er sich an der Bar fest. Es war nicht daran zu denken, als Anhängsel einer sich wochenlang in den Körper hineingefressenen Erkältung die Möglichkeit zu tanzen auch nur in Betracht zu ziehen. So hörte er aus der Ferne zu, wie sich der Dubstep in den letzten Monaten anscheinend in eine neue Form des alten Bummbummbumms gemorpht hatte. Über der preußischen Bassdrum manifestierten sich im weiten Raum dubmäßig Echos werfende, scheppernde Klangereignisse.

Männlich und heterosexuell, wie er nun mal war, die Dinge nehmend, wie sie sich ihm zeigten, schaute er in die Gesichter der jungen Frauen, wissend, dass er bereits in der U-Bahn sitzen würde, wenn sie grade erst anfangen würden, sich zu amüsieren. Ähnelte sein Blick jetzt dem der kultivierten Männer auf das einzig übrig gebliebene authentische Wesen: die ganz junge Frau, der letzte edle Wilde?

Ströme erwartungsfroher Menschen glitten aneinander vorbei, stockten hin und wieder, einzelne Individuen nahmen Blickkontakt auf. In seinem klassischen Aufsatz über die Technologien des Selbst, der Anfang der Achtziger in einem heute obskuren amerikanischen Sammelband erschienen war, hatte sich Foucault den alten Griechen gewidmet und ihrer Frage, wie das Leben am besten zu leben wäre. Eine altgriechische Technik bestand darin, sich schreckliche Ereignisse vorzustellen, die einem selbst oder geliebten Menschen widerfahren könnten, um im Augenblick ihres Eintretens besser gegen sie gewappnet zu sein.

Erhabene Momente

Krank in einen Club zu gehen, mäßig zu trinken, keinesfalls zu rauchen und genau dann dem Ausgang zuzustreben, wenn die Party gegen zwei wirklich beginnt, ist die Anerkennung der Tatsache, dass das Leben endlich ist. Zu wissen, dass man den frühen Morgen nicht glücklich erschöpft und wach erleben wird wie die Zurückgebliebenen, weil man schlafend im Bett liegt, ist traurig. Dieses Wissen aber schafft auch erhabene Momente, wie sie die disziplinierten Männer des alten Europa alle naselang erlebt haben müssen.

Erhobenen Hauptes sich den Schal umzuwerfen, zügig, aber ohne Eile, mit simuliert festem Schritt, aber ohne die Feiernden zu stören, dem Ausgang zuzustreben, wird von den Jüngern des Exzesses womöglich als Fingerzeig verstanden, dass woanders das Leben noch praller, die Trauben noch süßer sind. Dabei wartet draußen nur die schwarze Schlacke auf den Husten.