„Das ist doch eine Eselei“

Julian Nida-Rümelin plädiert für einen radikalen Kurswechsel bei den gegenwärtigen Hochschulreformen

■  ist 55 jahre alt und Philosophieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), war Kulturstaatsminister im Kabinett Schröder und ist seit Januar Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. Er gehört zu den schärfsten Kritikern der Bologna-Reformen an deutschen Hochschulen und fordert in einer Kampfkandidatur den derzeitigen LMU-Präsidenten Bernd Huber heraus, der die Uni erst zur Elite-Uni gemacht hat. Im taz-Gespräch erzählt Nida-Rümelin erstmals, warum er kandidiert, was so schlecht an deutschen Unis ist – und auf welche Visionen es jetzt ankommt.

■  Beide Kandidaten – Nida-Rümelin und Huber – werden im taz-Labor „Welche Uni wollen wir?“ am 24. April in Berlin zu Gast sein

INTERVIEW MARTIN KAUL

taz: Herr Nida-Rümelin, Sie sind einer der profiliertesten Kritiker der gegenwärtigen Hochschulreformen und bewerben sich nun in einer Kampfkandidatur in München darum, eine Eliteuni zu führen. Warum?

Julian Nida-Rümelin: Die deutsche Universität befindet sich gegenwärtig in einer veritablen Krise. Wenn wir kein Desaster erleben wollen, müssen wir jetzt dringend einen Kurswechsel einleiten.

Was soll denn der Kern dieser Krise sein?

Den bildungspolitischen Reformprozessen der letzten Jahre fehlt die kulturelle Leitidee. Es mangelt an Visionen.

Und Sie haben eine Vision?

Das glaube ich schon.

Wie sieht die aus?

Wir sollten eine eigene Vorstellung der europäischen Universität entwickeln und uns nicht lediglich an dem vermeintlichen Vorbild USA orientieren. Die Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Disziplinen könnte der Kern einer europäischen Universitätsidee sein. Stattdessen verkürzen wir die Schulzeit um ein Jahr, wie es in den Bundesländern gerade geschieht, um dann mit einem fragwürdigen Bachelor-Konzept die Schulzeit faktisch um drei Jahre zu verlängern.

Das war nun zwar eine Kritik, aber doch noch keine Vision.

Nun, wir müssen natürlich zunächst feststellen, was in den letzten Jahren an den deutschen Hochschulen schiefgelaufen ist.

Gut, beginnen wir mit der Problemanalyse.

Wir erleben derzeit eine Wissenschaftspolitik, die in weiten Teilen von Realitätsverweigerung gekennzeichnet ist. Hinter der trügerischen Strahlkraft der Exzellenzinitative verbirgt sich an den Hochschulen eine echte Bildungsmisere. Ich bin der Meinung: Mit 18 ist man erwachsen. Und das muss auch an der Uni gelten. Es macht doch keinen Sinn, Erwachsene noch mal in den Status von Jugendlichen zurückzuversetzen. Genau das wird aber derzeit getan.

Wie meinen Sie das?

Mit absurden Präsenzlisten, mit einem extremen Maß an Verschulung, mit einer permanenten Prüferei gängeln wir die Studierenden und verhindern genau das, was die europäische Universität ausmachen sollte. Nämlich, dass die Studierenden selbstverantwortlich Schwerpunkte setzen, selbständig leben und lernen und damit auch ihre eigene Urteilskraft schärfen.

Das sind Schlagwörter, die seit Humboldt lieb und teuer sind. Aber Sie können eine bürgerliche Retrorhetorik doch nicht als europäische Vision verkaufen.

Erstens: Das ist keine bürgerliche Retrorhetorik, sondern Leitschnur der US-amerikanischen Spitzenuniversitäten. Sie wären erstaunt gewesen, wenn sie gesehen hätten, wie viel Zuspruch ich etwa von den Studierenden im besetzten Audimax erhalten habe, denen ich meine Ideen vorgetragen habe. Der Bezug auf Humboldt ist keine abgestandene Professorenideologie. Zweitens sage ich natürlich nicht: Alles zurück auf Start.

Sondern?

Die Humboldt’schen Bildungsideale sind heute aktueller denn je, das hängt auch mit den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zusammen. Aber sie müssen modernisiert werden für eine inklusive und humane Hochschulpolitik. Und hierfür benötigen wir neue Antworten.

Und wie sollen diese Antworten Ihrer Meinung nach aussehen?

Die Universitäten müssen ihre Mitglieder wieder ernst nehmen. Da sieht die Situation an den meisten deutschen Universitäten dramatisch schlecht aus. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Der Rat von Studierenden ist häufig weitaus näher an der Realität, als die Theorien von so manchen Wissenschaftsmanagern.

Und was schließen Sie jetzt daraus?

Wir brauchen einen erneuten Paradigmenwechsel, weg von der Idee, dass Universitäten wie Konzerne zu führen sind, hin zu der Idee einer Verantwortung und Einbeziehung aller in die Meinungsfindung. Die Idee der europäischen Universität als Republik der Lehrenden und Studierenden, der forschenden und administrativen Mitarbeiter. Das ist übrigens auch effektiver.

Fakt ist: Um Hochschulpräsident zu werden, nützt Ihnen die Zustimmung innerhalb der Universität nur noch bedingt. Über Ihre Berufung entscheidet längst ein Hochschulrat, der zu einem guten Teil aus externen Unternehmern besetzt ist.

Auch denen liegt eine zukunftsfähige und innovative Vision der Universität am Herzen. Natürlich kann ich nur ein Angebot unterbreiten, wie die Hochschulen – in diesem Fall konkret die LMU München – aus der Krise, in die sie sich hineinmanövriert haben, wieder herauskommen. Ob der Hochschulrat dieses Angebot annimmt, ist freilich seine Entscheidung.

Sie treten in München gegen Bernd Huber an, der die LMU mit der Exzellenzinitiative zur Eliteuni gemacht hat und seit acht Jahren an ihrer Spitze steht. Und Sie sagen: Alles muss anders werden. Das kann doch nur scheitern, oder?

Ganz so ist das nicht. Die Universität war in den Exzellenzwettbewerben tatsächlich sehr erfolgreich. Sie ist zweifelsfrei eine der besten deutschen Universitäten. Was die Exzellenzwettbewerbe angeht, sehe ich auch keinen Bedarf für einen Kurswechsel. Das würde ich fortsetzen.

Was wollen Sie denn genau ändern?

Ich sehe in zwei Bereichen dringenden Handlungsbedarf: Bei der Gestaltung der Studiengänge und im Hinblick auf die Vielfalt der Wissenschaftskulturen. Beides sind Probleme, die keine Eigenarten der LMU sind, sondern die bundesweit ungelöst sind.

Machen wir das doch mal konkret: Auch ein Julian Nida-Rümelin kann das Bachelor-Studium nicht wieder abschaffen.

Will er auch nicht. Ich beobachte aber mit Interesse, dass einige der Vorschläge, die ich seit Jahren gemacht habe und mit denen ich regelmäßig auf taube Ohren gestoßen bin, heute gerade von denjenigen zögerlich umgesetzt werden, die sich in der Vergangenheit konsequent taub gestellt haben. Wir hätten uns drei Jahre Zeitverlust sparen können.

Nennen Sie mal konkrete Beispiele.

Die Bologna-Vereinbarung lässt neben dreijährigen auch dreieinhalb- oder vierjährige Bachelor-Studiengänge zu. Warum hat man diesen Spielraum nicht genutzt? Heute haben wir in Deutschland Bachelor-Studiengänge, die international nicht konkurrenzfähig sind, weil die amerikanischen Universitäten sie nicht akzeptieren. Das ist doch eine Eselei sondergleichen. Völlig absurd ist auch, dass mit der Umsetzung der Hochschulreformen die Mobilität der Studierenden gesunken ist. Genau das Gegenteil war gewollt. Ich habe bereits vor Jahren gefordert, Mobilitätsfenster einzubauen.

Herr Nida-Rümelin, wie gefährlich ist ein Unipräsident, der den Bologna-Prozess in Frage stellt?

Bitte missverstehen Sie mich nicht. Wir müssen nicht Bologna abwracken, sondern aus Bologna etwas Ordentliches machen. Wir können heute weder die gestuften Studiengänge in Frage stellen, noch können wir uns aus einem Prozess verabschieden, an dem über 40 Staaten beteiligt sind. Darum kann es nicht gehen. Wir brauchen aber eine konsequente Reform der Reform.

Was sind denn die Eckpfeiler ihrer Reformreform?

Die zentrale These Humboldts ist die Verbindung von Wissenschaft, Bildung und Ausbildung. Diese Idee ist heute aktueller als noch im 19. Jahrhundert. Dass die Konfrontation mit Wissenschaft eine Persönlichkeitsbildung ermöglicht und damit zugleich Fähigkeiten entwickelt, die außerhalb der akademischen Welt Sinn machen, das muss die zentrale Vision einer europäischen Universität sein. Beschäftigungsfähig ist heute doch gerade der kritische, eigenständige Geist. Die Form, in der die Bologna-Reform in Deutschland überwiegend durchgesetzt worden ist, resultiert aber gerade in der Trennung dieser Bereiche.

Sie sprachen auch von der Marginalisierung der Wissenschaftskulturen.

Es wird öffentlich kaum beachtet, dass die Geistes-, Kultur- und ein guter Teil der Sozialwissenschaften gegenwärtig marginalisiert werden. Indem Forschungsstandards, die in naturwissenschaftlichen Forschungsbereichen Sinn machen können, stur auf die Geisteswissenschaften übertragen werden, zerstören wir die geisteswissenschaftliche Fächerkultur. Das gilt auch fürs Studium: Studiert jemand Germanistik oder Philosophie, wenn die zentrale Botschaft der Hochschulen „Beschäftigungsfähigkeit“ heißt? Natürlich nicht. Prompt gehen die Zahlen der Studierenden in diesen Fächern zurück. Kurz: Wir brauchen wirklich grundlegende Veränderungen.

Es gibt in Deutschland kaum einen Unipräsidenten, der in der Deutlichkeit der Kritik an Sie herankäme. Sind Sie auf der Ebene universitärer Chefetagen nicht völlig isoliert?

Nicht mehr. Es hat ein Umdenken begonnen, und die Proteste der Studierenden waren dabei der ausschlaggebende Faktor. Die Einsicht wächst, dass Bildung zur besten Ausbildung geworden ist und dass die Konfrontation mit Forschung und Wissenschaft die Persönlichkeit bildet.

Faktisch ist derzeit aber die wichtigste Aufgabe in den Chefetagen der Unis, die unternehmerische Hochschule fit für die Wettbewerbsformate des globalen Bildungsmarktes zu machen.

Ich habe nichts gegen Wettbewerb und Spitzenleistung, ich habe etwas gegen Verschulung und geistige Verödung. Universitäten sind keine Unternehmen, sondern Bildungsstätten der Wissenschaft.