Das Eis ruft

Wenn es knackekalt wird und friert, hat der Müggelsee seine zweite Hochsaison. Er ist ideal für neue Trendsportler wie Eis- und Kite-Surfer. Da kann es schon mal eng werden, denn die guten alten Schlittschuhläufer und Eissegler bekommen Konkurrenz

VON CHRISTO FÖRSTER

Eigentlich war es schon da, bevor es gestern tatsächlich begann – das große Bibbern. Tagelang wurden die eisigen Temperaturen, die jetzt in Berlin angekommen sind, zu einem Szenario des Schreckens stilisiert. Fast hatte man den Eindruck, eine riesige Eiskralle würde sich unaufhaltsam westwärts schieben und alles Leben auf ihrem Weg zerstören. Während das Gros der Bevölkerung sich vor Angst am liebsten im Kamin verkrochen hätte, konnten zwei Berliner den Kälteeinbruch kaum erwarten: Andreas Thilo und Mathias Rückl vom Bootsverleih und der Ausflugs-Bar am Nordufer des Müggelsees. Sie nutzten das Tauwetter vor dem Frost, um ihre Existenzgrundlage im Winter – die Eisfläche des Sees – zu präparieren.

„Wenn es wirklich so kalt und klar wird wie der Wetterbericht verspricht, dann haben wir hier am nächsten Wochenende über 2.000 Besucher“, sagt Thilo und watet durch eine Pfütze auf dem Eis. Noch bevor es wieder friert muss er den wässrigen Schnee vom Eis schippen, denn statt Tretbooten und Kanus hat er zu dieser Jahreszeit Schlittschuhe und Equipment für Eissurfer im Angebot. Da ist eine spiegelglatte Oberfläche Gold wert: Der Müggelsee zieht, sobald die Eisdecke trägt, nicht nur Sportler an, sondern auch viele Zuschauer.

An diesem Tag jedoch ist kaum jemand unterwegs. Ein einsamer Surfer, der sein Segel auf ein Skateboard mit vier Kufen montiert hat, taucht auf, macht ein paar Fahrversuche, scheitert am fehlenden Wind und bestellt dann lieber einen Glühwein bei Rückl, dem Mann hinter der Bar, die genau wie der Bootsverleih auf dem Gelände neben dem Strandbad liegt. „Ich habe hier bei Windstärke vier schon Geschwindigkeiten von über 80 km/h erreicht“, sagt der Surfer, „da mussten sogar die Eissegler staunen.“ Die nämlich sind eigentlich schneller unterwegs und wegen ihrer langen Tradition auch die Stars des Sees. In ihren „Booten“, die eher nach Raketen aussehen, sitzen die Fahrer wie in einem Minicockpit und schneiden die kalte Luft sauber in dünne Streifen.

Direkt am Ufer, gleich hinter dem Bootsverleih, liegt so ein Gefährt. „Baujahr 1934“, sagt Rückl, „genauso alt wie sein Besitzer. Der kommt fast jeden Tag und fährt fünf Stunden den See hoch und runter.“ Das Eissegeln hat sich nicht viel verändert über die Jahre – die gleiche Ausrüstung, das gleiche Eis, der gleiche Wind. Trotzdem oder gerade aus diesem Grund fällt es den Eisseglern schwer, die Lücke zur nächsten Trendsport-Generation aus eigener Kraft zu schließen. Da geht es ihne ähnlich wie den Wasserskiläufern im Sommer. Wenn die Jugend ihren eigenen Hype braucht, die eigene Sportart aber zu eingestaubt erscheint, dann muss man handeln wie der Vater einer pubertierenden Tochter: nicht krampfhaft versuchen, sie an sich zu binden, sondern sie freigeben, um sie nicht ganz zu verlieren. So ist das Eis mittlerweile nicht nur eine Winter-Alternative für Windsurfer geworden, sondern auch für Snowboarder und Kite-Freaks.

Thilo und Rückl sind froh, dass die Mischung auf dem Müggelsee auch im Winter so bunt ist – Rentner und Kleinkinder, Schlittschuhläufer und Speedsegler, Profisportler und Spaziergänger. Die alle kommen aber nur, wenn es richtig schön friert. Und das tut es ja nun wieder. Wie verabschieden sich die Eissegler auf der ganzen Welt schon seit Jahrhunderten: „Good Ice, Hooray!“ Ein Hoch auf den Frost.