Alle Zeit der Welt

TAGTRAUMFOLK Wie ein leicht verstrahlter Hypnotiseur: Kurt Vile hüllt die Welt in verschlungen wabernde Gitarren-Schleifen

Wenn die gesamte Menschheit längst in die Grube gefahren ist – von irgendwoher wird leises Zupfen zu hören sein

VON MICHAEL SAAGER

Noch sichtlich jung ist dieses derzeit überall gefeierte Wunderkind des psychedelischen Lo-Fi-Folks. Dabei wird man das Gefühl nicht los, Kurt Vile, 33, sei irgendwie immer schon dabei gewesen. Denn seine Musik klingt geradezu zeitlos: Wenn die gesamte Menschheit längst in die Grube gefahren ist – von irgendwoher wird da dieses leise Zupfen und temperamentvolle Schrammeln zu hören sein. Wabernde, einlullende Schleifen, die die zögerliche Schönheit der Vile’schen Fingerpicking-Meditationen einhüllen und eine merkwürdig ewige Unentschiedenheit beschwören.

Am liebsten umkreisen Vile und seine derzeit aus den kongenialen Multiinstrumentalisten Jesse Trbovich und Rob Laasko bestehende Band The Violaters ellipsenartig ein einfaches melodisches Thema. Mit langen, eigensinnigen Gitarrenläufen, die sich mit verschiedenen Techniken vom Grundthema abheben, kleine Klanginseln bilden und wieder im Ozean verschwinden.

Ein eigenwillig tagträumender Folkrock also, der neuerdings gar nicht mehr so weit entfernt ist von Tom Petty und Neil Young. Dazu aber deutliche Spuren britischer Psychedelia trägt. Da darf man sich dann gern an zwei Verlorene erinnert fühlen, an Syd Barrett und Nikki Sudden. So verschroben das alles mitunter klingen mag: Zur „trippy-hippie“ Freak-Folk-Szene um den lustigen Devendra Banhart oder die etwas penetranten Schwestern von Coco Rosie konnte man Vile nie zählen.

Viel Applaus hat der ehemalige Gitarrist der Indierockband The War on Drugs erstmals für sein drittes Album und Major-Debüt „Childish Prodigy“ bekommen. Lesen konnte man damals, Sonic Youths geschmackssichere Kim Gordon habe gar „Schuldgefühle“, weil sie die Platte immer wieder zwanghaft auf den Teller legen müsse. So was kann bekanntlich nicht schaden. Gabelstapler fährt Vile jedenfalls nicht mehr, heute lebt er von seiner Musik.

Auch hierzulande bekannt wurde der zweifache Vater und erklärte Familienmensch – schon deshalb: Drogen sind hier erstaunlicherweise nicht im Spiel – aber erst mit seinem vor zwei Jahren erschienenen Album „Smoke Ring for My Halo“. Rumpeliger und verwaschener als heute klang er darauf noch, die Stimme war stärker in den Hintergrund gemischt.

Alle Zeit der Welt hat sich Kurt Vile auch da schon genommen. Und auch der Titelsong seines neuen Albums „Wakin on a Pretty Daze“ dauert knapp zehn Minuten: ein ausgesprochen verführerischer, melancholischer Laid-Back-Gleiter, versehen mit feinen, anmutig verschlungenen Gitarrensoli, Tempiwechseln, ein paar hübschen Breaks und diesen davonfliegenden Gitarrensounds, wie man sie aus dem Dream-Pop kennt. Man verliert sich darin und taucht frühestens wieder auf, wenn das Stück zu Ende ist. Dann reibt man sich die Augen.

Bei etlichen der Stücke auf dem knapp 70 Minuten langen Doppelalbum ist das so. Viles sonore, sexy vernuschelte, immer etwas weltabgewandte Erzählerstimme verstärkt dieses Gefühl noch – als würde man von einem leicht verstrahlten Hypnotiseur mit angenehm monotoner Stimme in eine andere Welt geführt. Und wie schön es dort ist!

Kurt Vile kommt aus Philadelphia, der zweitgrößten Stadt an der Ostküste der USA. Er liebt „Philly“, diese 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt am Delaware River – und hat zum Titelsong in Bruce Springsteens „Streets of Philadelphia“-Manier eine, okay: nicht ganz uneitle Liebeserklärung drehen lassen: Von Stadtbahnzügen auf Trassen schwenkt der Blick der Kamera zu halbverfallenen Gebäuden. Streift einen Stadthimmel mit Wolken, heftet sich aber die meiste Zeit an eine schmuddlig graue Betonwand.

Im Zeitraffer malen und sprayen dann Männer den Schriftzug des neuen Albums in riesigen Buchstaben an die Wand – das spätere Cover-Motiv. Einer von ihnen ist der örtliche Street-Art-Künstler Steven Powers. Man muss halt die richtigen Leute kennen. Am Ende des Clips neigt sich die Sonne dem Horizont entgegen, und man weiß einmal mehr: Wirklich niemand singt ein lässigeres, zugleich urbaneres „Yeah-Yeah“ als dieser Typ, Kurt Vile.

■ Di, 28. 5., 21 Uhr, Knust