Zwischen Protest und Anpassung

In Lateinamerika ist der Wahlerfolg vieler linker Politiker der Stärke der sozialen Bewegungen zu verdanken. Sie müssen nun aufpassen, nicht vereinnahmt zu werden

LA PAZ taz ■ Der Regierungswechsel in Bolivien an diesem Wochenende ist in doppelter Hinsicht eine Premiere: Mit Evo Morales übernimmt ein Politiker das höchste Staatsamt, der nicht nur der indigenen Bevölkerungsmehrheit angehört, sondern zugleich Sozialist ist. Vergleichbares hat es in Lateinamerika bisher nicht gegeben.

Ähnlich wie 2001 bei dem früheren Weltbank-Ökonomen Alejandro Toledo in Peru oder 2002 bei dem Brasilianer Lula da Silva inszenieren die Medien den Aufstieg eines Politikers vor allem als individuelle Erfolgsstory. Doch gerade bei Morales führt eine Personalisierung, die das soziale Umfeld – aus armen Verhältnissen – ausblendet, in die Irre. Denn es war die Stärke der sozialen Bewegungen, die ihn im Dezember zum klaren Wahlsieg führte. 2003 und 2005 hatten die indigen geprägten Volksbewegungen zwei Präsidenten zum Rücktritt gezwungen.

Zu der sozialen Bewegung Boliviens gehören zum Beispiel die Wasser-Aktivisten aus Cochabamba, die vorgestern einen bemerkenswerten Triumph feiern konnten: Die Multis Bechtel (USA) und Abengoa (Spanien) verzichten knapp sechs Jahre nach dem Scheitern der Wasserprivatisierung auf ihre Entschädigungsklage gegen Bolivien vor dem Weltbank-Schiedsgericht – auch das eine Premiere.

Allerdings wollen die allermeisten Wortführer der Basisgruppen ihre Unterstützung für Morales nicht als Freibrief verstanden wissen. „In Lateinamerika bleibt der Staatsapparat auf die Interessen des Kapitals ausgerichtet“, meint Oscar Olivera von der „Wasser-Koordination“ aus Cochabamba. „Es ist ein vertikales, autoritäres Modell, das keinen Raum für autonome Initiativen lässt.“ In Bezug auf den neuen Präsidenten ist er illusionslos: „Morales wird keinen Bruch mit diesen neokolonialen Strukturen vollziehen. Daher müssen ihn die sozialen Bewegungen zu echten Veränderungen zwingen.“

Ähnlich argumentieren die Wortführer der brasilianischen Landlosenbewegung MST. Doch anders als in Argentinien sind die Basisgruppen in Brasilien nie ein Machtfaktor geworden, der die Ausrichtung der Politik maßgeblich beeinflussen könnte. Trotz seiner Versprechungen nimmt Lula eine Agrarreform genauso wenig in Angriff wie seine Vorgänger und fördert das exportorientierte Agrobusiness viel mehr als die Kleinbauern.

Die MST hält mit Landbesetzungen und Demos dagegen – doch ein Bruch mit der Regierung stand nie zur Debatte. Die Landlosen wissen genau, dass bei einer Niederlage Lulas im Oktober 2006 das Wohlwollen der Regierung geringer wen wird, was die Finanzierung vieler Sozialprojekte gefährden könnte.

In Argentinien wird der Linksperonist Néstor Kirchner von der Hälfte der rund 200 Arbeitslosengruppen unterstützt, den Piqueteros. Einst führende Aktivisten sind in den Regierungsapparat gewechselt, und zuweilen stellt sich der Staatschef selbst an die Spitze der Bewegung: Nachdem Shell im März 2005 die Benzinpreise spürbar erhöht hatte, rief Kirchner zu einem Boykott des Multis auf. Piqueteros blockierten Tankstellen, Shell gab nach.

In Venezuela müssen sich die eher schwachen Basisbewegungen noch vehementer vor der drohenden Vereinnahmung von oben wehren. Daher wird die Spannung zwischen Bewunderung und Skepsis, die das Verhältnis der meisten Linken für Staatspräsident Hugo Chávez bestimmt, auch das amerikanische Weltsozialforum in Caracas prägen. GERHARD DILGER