Realistische Groteske

Polittbüro würdigt mit zwei Lesungen den Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Edgar Hilsenrath

Mit zwei Veranstaltungen würdigt das Polittbüro jetzt das Werk des Schriftstellers Edgar Hilsenrath: Anfang der Woche wird Gustav Peter Wöhler in Anwesenheit Hilsenraths Auszüge aus dem Roman Der Nazi und der Friseur lesen. Anfang Februar dann trägt Michael Weber aus dem einstigen Literaturdebüt Nacht vor; anschließend wird der Verleger Helmut Braun über die schwierige Veröffentlichungsgeschichte des ersten großen Romans Hilsenraths sprechen.

Geboren 1926 in Leipzig, ist das Leben Edgar Hilsenraths und sein späteres literarisches Werk gezeichnet durch Erfahrungen der Diskriminierung, der Flucht ins Exil, des Überlebens in einem jüdischen Ghetto in der Ukraine bis zur Befreiung durch die Rote Armee 1944. Nach Zwischenstationen im Ausland ist Hilsenrath schließlich 1975 nach Deutschland zurückgekehrt.

Und vielleicht ist es die von Hilsenrath selbst angeführte Liebe zur deutschen Sprache, die ihn vor 30 Jahren dauerhaft nach Berlin geführt hat. Öffentliche Wertschätzung seiner schriftstellerischen Arbeit kann es jedenfalls nicht gewesen sein: Sowohl Nacht, abgesehen von einer Kleinstauflage 1964, als auch Der Nazi und der Friseur wurden in Deutschland erst veröffentlicht, als beide Bücher im Ausland bereits Millionenauflagen erzielt hatten. In Nacht beschreibt Hilsenrath, „wie das große Sterben aussieht und wie man in solch einem Ghetto überlebt“. In Der Nazi und der Friseur schildert er mit den Mitteln der Groteske, wie der SS-Massenmörder Schulz nach dem Krieg in die Rolle des von ihm ermordeten jüdischen Schulfreunds Itzig Finkelstein schlüpft und so unterzutauchen hofft.

Hilsenrath hat sich stets einem Literaturbetrieb verweigert, dessen Akteure nach 1945 mehrheitlich durch die Reinszenierung einer deutsch-jüdischen Symbiose, die es nie gegeben hat, in Kultur und Gesellschaft das Verschweigen der Vergangenheit durch Reden befördert haben. Hilsenrath ist vielmehr zum literarischen Chronisten einer negativen Symbiose geworden, dessen historisch genauer Blick die „Wandlung“ der Verfolger, die es auch nach 1945 potenziell geblieben waren, in „gedächtnisschwache“ vermeintlich Verfolgte erfasst hat.

Edgar Hilsenraths überragendes schriftstellerisches Werk ist das eines Autors, der vor 61 Jahren den deutschen Mördern mit Glück entkommen konnte.

Andreas Blechschmidt

„Der Nazi und der Friseur“: 23.+24.1.; „Nacht“: 7.2., jeweils 20 Uhr, Polittbüro, Steindamm 45