Hoffnungen eines Patrioten

Morris Berman analysiert überzeugend, wie der Kapitalismus die Gesellschaftsordnung in den USA gefährdet, weil ein politisches und soziales Gegengewicht fehlt

VON FRANK LÜBBERDING

Die USA sind zur Zeit der tragende Pfeiler einer expandierenden Weltwirtschaft. Ohne die Nachfrage aus Amerika blieben die großen Exporteure der Welt, vor allem Deutschland, China und Japan, auf ihren Produkten zum großen Teil sitzen. Die USA sind aber nicht nur der Motor der Weltwirtschaft, dessen Dynamik sie zum Vorbild für den Rest der Welt mache.

Ihre bekannten Schattenseiten, wie die hohe Kriminalitäts- und Armutsrate, haben in den letzten Jahren auf diese Sicht kaum einen Einfluss gehabt. Im Gegenteil: Gerade das Fehlen eines modernen Sozialstaates macht in den Augen vieler Meinungsmacher die neu entdeckte Attraktivität aus. Die USA gelten wieder als ein Laboratorium der Zukunft. Unserer Zukunft.

In diesem Laboratorium hat sich nun der amerikanische Kunsthistoriker Morris Berman in seinem Buch „Finstere Zeiten für Amerika. Ende einer imperialistischen Ära“ umgesehen. Hinter der glänzenden Fassade sieht er allerdings nur bröckelndes Gemäuer. Die USA seien mitten in einem schon Jahrzehnte andauernden Verfallsprozess. Die Dynamik ist in Wirklichkeit eine Scheinblüte. Der profane Grund: Der Rest der Welt finanziert bis heute die riesigen amerikanischen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite. Erst dieser Kapitalimport, im übrigen vor allem aus China, ermöglicht den USA ihr hohes Wirtschaftswachstum – und sichert ihre internationale Position. Ohne diese Voraussetzung wäre die Schwäche des amerikanischen Modells schon längst sichtbar geworden.

Seine Schwäche zeigt sich für Berman in allen Sektoren der amerikanischen Gesellschaft. Das betrifft nicht nur die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industrie. Auch die Infrastruktur – von den Schulen und sonstigen Bildungsstätten bis zu den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen – findet bei Berman nicht viel Gnade.

Auch ansonsten könne von Dynamik nicht ernsthaft die Rede sein. In Wirklichkeit habe in den letzten Jahrzehnten nur eine Umverteilung zugunsten der oberen 5 Prozent der Einkommensbezieher und Vermögensbesitzer statt gefunden. Das hat für die meisten Amerikaner nur eine Konsequenz gehabt: Eine dauerhafte Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse.

Dazu kommt das Klima der Unsicherheit. Mittlerweile könne man sich in den USA auf nichts mehr verlassen außer auf sich selbst. Die soziale Umwelt gleiche zunehmend einem Dschungel. Der „extreme Individualismus“ führe „zu Entfremdung und sozialer Vereinzelung.“ Berman beschreibt anhand eigener Erlebnissen die Folgen für das Zusammenleben der Menschen. Er macht sensibel Lebensumstände sichtbar, die in den nüchternen Analysen von Ökonomen oder Soziologen so nicht deutlich werden.

Für den Verfall der USA hat der Autor vor allem eine Erklärung: Die Kommerzialisierung sozialer Beziehungen. Es gäbe für das menschliche Zusammenleben nur noch zwei relevante Maßstäbe: Den Profit als Ziel und die Konkurrenz als Mittel. Diese Maßstäbe hätten in den letzten dreißig Jahren alle Bereiche der Gesellschaft geprägt. Das betrifft die Kindererziehung genauso wie das Bildungssystem, die Arbeitsbeziehungen oder die Gesundheitsvorsorge.

Eine der Folgen sei der beispiellose kulturelle Niedergang in den USA. Elementare Kulturtechniken – ob die Analyse von Texten oder historisches Wissen – wären in großen Teilen der Bevölkerung schon verloren gegangen. Die Kommerzialisierung führe zur Verblödung des Konsumenten. So erobere man zwar den Irak, aber wo er auf der Landkarte zu finden ist, bleibe vielen Amerikanern ein ungelöstes Rätsel. Kein Wunder: Mancher suche auch schon für die Reise nach Hawaii nach einer günstigen Bahnverbindung. Für Berman sind das keine Anekdoten, sondern Indizien für die zerstörerische Wirkung des Konsumismus auf den gesellschaftlichen Unterbau.

Das kommt auch in der Außenpolitik zum Ausdruck. Berman sieht dort eine Mischung aus Ignoranz und Hybris am Werk. Ignorant sei, wie sehr die US-Regierung etwa die Gründe der islamistischen Religionskrieger verkennt, die den USA den „heiligen Krieg“ erklären. Die Hybris bestehe in den untauglichen Mitteln, den so genannten Krieg gegen den Terror auch tatsächlich zu gewinnen. Die derzeitige Außenpolitik dokumentiere den inneren Zustand einer Weltmacht im Niedergang. Man weiß allerdings nicht, was der Autor beunruhigender findet: Die noch vorhandene Stärke der USA – oder ihre Schwäche.

Morris Berman sucht für diese Entwicklung nach langen historischen Linien. Die findet er bis in den Gründerzeiten der amerikanischen Republik. Allerdings kann dieser Rekurs nicht überzeugen. Er ist zu fasziniert von seiner These des unaufhaltsamen Verfalls, um gegenläufige Strömungen noch entsprechend würdigen zu können. So ist der amtierende US-Präsident zwar mit großer Mehrheit gewählt worden, aber ist das wirklich nur ein Indiz für die hoffnungslosen Verhältnisse in den USA? Immerhin jedoch erlebte man zugleich im Wahlkampf die Repolitisierung breiter Bevölkerungsgruppen. Und die ist nicht zu unterschätzen. Bei eben jenen letzten Präsidentschaftswahlen hat der Demokrat John Kerry recht gut abgeschnitten, obwohl er sicherlich kein herausragender Kandidat gewesen ist.

Bisweilen erinnert das Buch auch an die konservative Amerikakritik der vergangenen 150 Jahre. Gerade in Deutschland ist diese Form des Antimodernismus durchaus mit Vorsicht zu genießen. Aber das Buch zeigt eben auch die Gefahr einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die ohne ein politisches Gegengewicht ihre eigene Substanz zerstören wird. Dagegen geht Morris Berman an – und erweist sich als amerikanischer Patriot. Er hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag für eine andere Entwicklung geleistet. Zwar glaubt er selbst nicht mehr daran, aber gerade als deutscher Leser sollte man eines nicht vergessen: Es sind schon ganz andere Mauern gefallen. Auch für Amerikaner kann diese Erinnerung bisweilen hilfreich sein.

Morris Berman: „Finstere Zeiten für Amerika. Ende einer imperialistischen Ära“. Aus dem Amerikanischen von Petra Post und Andrea von Struve. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2005, 528 Seiten, 24,90 Euro