Ein Erfolg, trotz aller Mängel

Zwar waren die Summen eher niedrig – aber immerhin hat die Zwangsarbeiter-Stiftung NS-Opfern relativ zügig und unbürokratisch Geld ausgezahlt

VON STEFAN REINECKE

Was war die rot-grüne Geschichtspolitik? Ein Normalisierungsschub oder im Gegenteil die Einlösung der antifaschistischen Gründungsidee der Bundesrepublik, symbolisiert durch das Holocaust-Denkmal in Berlin? Oder beides?

Um dies zu beantworten, lohnt es, den Blick weg von der politischen Symbolik auf das unscheinbarste, aber wichtigste Projekt rot-grüner Erinnerungspolitik lenken: die Zwangsarbeiterentschädigung. Denn dabei ging es nicht nur um moralische und politische Geländegewinne, sondern um Konkretes: um Geld. Rund 5 Milliarden Euro brachten Staat und Wirtschaft auf, um noch lebende Zwangsarbeiter zu entschädigen.

Das Stiftungskuratorium traf sich gestern zu einer Bilanz in Berlin. Denn das Geld ist nun zu mehr als 98 Prozent ausbezahlt. Ist das Projekt geglückt? Ein Überblick.

Haben die richtigen Leute Geld bekommen?

Ja. Das beste Argument der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ist eine Zahl: 1,64 Millionen. So viele Ex-Zwangsarbeiter vor allem in Tschechien, Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland haben in den letzten fünf Jahren Geld erhalten. KZ-Häftlinge bekamen bis zu 7.700 Euro, Verschleppte, die in der Industrie und Landwirtschaft zwangsarbeiten mussten, 2.500 Euro. Diese Zahlen zeigen, dass es richtig war, eine kollektive Entschädigung anzupeilen – und nicht Firmen individuell entschädigen zu lassen. Denn das wäre ein Verfahren nach Gutdünken geworden.

Haben alle noch lebenden Zwangsarbeiter Geld erhalten?

Nein. Zwar wurden, anders als anfangs geplant, auch Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft entschädigt. Doch zwei Opfergruppen wurden, mit völker- und kriegsrechtlichen Argumenten, ausgeklammert: sowjetische Kriegsgefangene (siehe Text unten) und italienische Militärinhaftierte. Formalrechtlich mag es für den Ausschluss von Soldaten Gründe geben – moralisch und humanitär betrachtet gibt es keine. Denn gerade diese beiden Gruppen wurden äußerst grausam behandelt.

Hat die deutsche Wirtschaft genug bezahlt?

Nein. Die Wirtschaft hat weniger beigetragen, als viele meinen. Faktisch hat sie nicht die Hälfte jener 5 Milliarden Euro bezahlt, sondern, wegen steuerlicher Absetzbarkeit, nur ein Viertel. Das Gros des Geldes hat der Staat bezahlt.

Haben die Opfer ausreichend Geld bekommen?

Nein, allerdings ist das eine Frage der Perspektive. Von einem gerechten, verspäteten Lohn kann keine Rede sein. Zudem haben die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft von Zwangsarbeit enorm profitiert. 1944 schufteten 10 Millionen Zwangsarbeiter in Deutschland – ohne sie hätte es keine intakte wirtschaftliche Infrastruktur gegeben, die eine Voraussetzung für das Wirtschaftswunder in den 50ern war. So gesehen sind ein paar tausend Euro viel zu wenig. Andererseits mögen diese Betrachtungen für eine ukrainische Ex-Zwangsarbeiterin, die im Monat 35 Euro Rente erhält, nicht wirklich zählen. Sondern die 2.500 Euro, die sie unverhofft bekommen hat.

War das Verfahren zu bürokratisch?

Eher nein. Die Nachweisbeschaffung, wer vor 60 Jahren zwangsarbeiten musste, war, wegen des hohen Alters der Betroffenen, oft ein Wettlauf mit der Zeit. Die Stiftung hat die bizarre Wartezeit beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen (bis zu 5 Jahre für eine Information) mit einer Kurzanfrage, die nach zwei Monaten beantwortet sein musste, umgangen. Außerdem hat sie einen alternativen Archivverbund aufgebaut. Und sie hat ermöglicht, dass auch ohne Dokumente Zahlungen möglich waren. Wer „glaubhaft“ machen konnte, Zwangsarbeiter gewesen zu sein, so die Formel, wurde auch ohne Dokumente anerkannt. Abgewiesen wurden rund 18.000 Anträge. Es gab zwar Klagen über zu viel Bürokratie. Allerdings lag dies in Verantwortung der Partnerorganisation etwa in der Ukraine.

Gab es Veruntreuungen?

Nein. Das Geld ist, soweit man weiß, dort angekommen, wo es hinsollte. In den 90er-Jahren, als die Kohl-Regierung NS-Opfer in den GUS-Staaten entschädigte, kam es zu millionenschweren Veruntreuungen. Vergleichbares wollte man nun vermeiden. Die Stiftung ließ bei ihren Partnerorganisationen in Tschechien, Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland immer mal wieder die Bücher prüfen. Zudem achtet man darauf, dass dort nicht mehr als 2,5 Millionen Euro auf den Konten waren.

Ist die deutsche Wirtschaft billig davongekommen?

Ja. Sie hat sich mit ihrer Beteiligung Rechtssicherheit, also Schutz vor allen weiteren individuellen Ansprüchen von Ex-Zwangsarbeitern, erkauft. Und sie hat damit Imageschäden und Umsatzeinbußen in den USA verhindert, wo 2.000 Sammelklagen gegen deutsche Konzerne liefen. Günter Saathoff, der im Vorstand der Stiftung arbeitet, sagt allerdings: „Ich kann nicht den ganzen Tag jammern, dass es nur 5 Milliarden waren.“

Wäre mehr für die Zwangsarbeiter drin gewesen?

Kaum. Wer 1985 oder 1995 eine kollektive Entschädigung von Zwangsarbeitern forderte, stieß fast über alle auf taube Ohren. Auch Rot-Grün wollte noch 1999, als Bodo Hombach dafür zuständig war, eine Stiftung nur für jüdische Zwangsarbeiter. Dass nun viele hunderttausend in Osteuropa entschädigt wurden, ist Ergebnis des öffentlichen Drucks.

Ist die Entschädigung insgesamt ein Erfolg?

Ja, trotz aller Mängel. Diese Entschädigungspraxis war das machtpolitisch Machbare. Man muss ein gehöriges Maß an Scholastik aufbringen, um die Entschädigungspraxis für den Skandal zu halten – und nicht das abwehrende Achselzucken, mit dem Deutschland zuvor 50 Jahre lang alle Ansprüche abgewehrt hatte. Die Zwangsarbeiterentschädigung war eine Chance, die genutzt werden musste. „2006“, meint Saathoff, „in Zeiten von Hartz IV, wäre es kaum möglich, 5 Milliarden Euro für Zwangsarbeiter flüssig zu machen.“

Positiv ist auch die innenpolitische Bilanz. Die Auseinandersetzung um die Stiftungsinitiative und um die Rolle deutscher Unternehmer bei der Ausbeutung von Zwangsarbeitern hat viele Menschen aufgerüttelt, ihr Verantwortungsgefühl geschärft und so die demokratisch-zivilgesellschaftlichen Kräfte gestärkt.