LIEBESERKLÄRUNG
: Meine freie deutsche Jugend

AUCH ALS AGITATOR IN DER FDJ KONNTE MAN SICH TREU BLEIBEN – UND SOGAR FÜR DAS LEBEN IM KAPITALISMUS LERNEN

Ich war in der FDJ – so wie Millionen andere Ostdeutsche auch, zum Beispiel Bundeskanzlerin Merkel. Ich war sogar Agitator einer FDJ-Gruppe, was Merkel von sich weist. Dabei war der Agitatorenjob nichts Besonderes: Tausende machten ihn, oft lustlos; und sogar Skeptiker traten damit den – karrierefördernden – Beweis an, sich gesellschaftlich zu engagieren.

Ende der 1980er Jahre an einem Gymnasium in einer Brandenburger Kleinstadt: Meine Klasse – die FDJ-Gruppe – bleibt nach Schulschluss im Unterrichtsraum, weil eine politische Diskussionsrunde ansteht. Es ist sommerlich heiß, die meisten meiner 15 Mitschüler wollen ins Freibad. „Wie findet Ihr, wenn Schwarze in Südafrika weniger Rechte als Weiße haben?“, frage ich. „Natürlich blöd“, sagt eine Mitschülerin. „Dürfen sie sich gegen ihre Unterdrückung wehren?“ „Ja“, sagt ein anderer. „Aber sie sollten sich zusammenschließen.“ Schnell wird klar, dass alle den ANC irgendwie klasse finden – und an den See wollen. Ende der Debatte. Ein anderes Mal reden wir über El Salvador – innenpolitische Themen vermeide ich als Diskussionsleiter.

In meiner Freizeit ging ich damals zu Punkkonzerten in Ostberlin, schaute Magazine im Westfernsehen, schrieb Gedichte, las Tucholsky, Mühsam und sogar den verbotenen Orwell – kurzum: Ich war politisch interessiert und diskutierte gern. Weil die Klassenlehrerin das merkte, machte sie mich zum Agitator. Dabei lernte ich, was viele Menschen auch heute irgendwann lernen müssen: Wie kann man die Erwartungen – einer Organisation, eines Unternehmens – erfüllen, ohne sich und seine Werte zu verleugnen. Schön war es nicht. Aber lehrreich. RICHARD ROTHER