Der letzte Samba von Berlin

MULTIKULTI Der Karneval der Kulturen bringt hunderttausende Besucher und jede Menge Geld in die Stadt. Die ProtagonistInnen des Umzugs sehen ihren Beitrag dazu jedoch kaum gewürdigt – weder finanziell noch ideell

■ Vom 17. bis zum 20. Mai wird rund um den Kreuzberger Blücherplatz das Straßenfest des Karnevals der Kulturen mit 350 Informations- und Essständen gefeiert: Samstag und Sonntag von jeweils 11 bis 24 Uhr, Montag von 11 bis 19 Uhr. Das Programm der vier Bühnen mit Musik aus verschiedenen Weltregionen geht jeden Tag bis eine Stunde vor Ende des Straßenfestes, der Eintritt ist frei.

■ Rund 4.000 Akteure in 79 Gruppen werden beim Karnevalsumzug am Sonntag, den 19. Mai durch Kreuzberg laufen. Start ist um 12.30 Uhr am Hermannplatz, die Route geht entlang der Hasenheide, Gneisenaustraße und Yorckstraße. Endpunkt ist gegen 21.30 Uhr an der Yorckstraße Ecke Möckernstraße. Erwartet werden mehr als eine Million Besucher. Alle Infos unter www.karneval-berlin.de

VON ALKE WIERTH

Ein schönes Gesicht mit strahlendem Lachen, umrahmt von bunten Federn, Glitter und Perlenschmuck soll die Weltoffenheit der deutschen Hauptstadt belegen. Es ist das Gesicht von Sonia de Oliveira, das fast jeder in dieser Stadt kennt – von unzähligen Fotos, Plakaten, Fernsehbildern und Filmaufnahmen zum Karneval der Kulturen. „Aber fast niemand kennt mich“, sagt die zierliche Frau, der es gehört. „Ich bin ein Phantom. Eine namenlose Tänzerin.“

De Oliveira wurde 1972 in einer kleinen Stadt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais geboren, wuchs als Jugendliche in Rio de Janeiro auf und ist seit etwa 17 Jahren auch Berlinerin. Seit 1997, dem zweiten Jahr des Multikultifests, ist die Berliner Brasilianerin mit ihrer Sambaschule Amasonia beim Karneval dabei. Wer im Internet nach dem Karneval sucht, stößt meist auf ihr Bild – und längst nicht mehr nur dort. Auf dem runden Tisch ihrer Charlottenburger Wohnung hat sie internationale Zeitungsartikel, Reiseführer und Bildbände über Berlin ausgebreitet. Ob über den Karneval berichtet oder einfach das multikulturelle Flair der Hauptstadt beschworen werden soll: Sonia de Oliveiras Gesicht ist der Beleg.

Es steht für ein Image, das Berlin einmal jährlich beim Karneval der Kulturen feiert – und nicht zuletzt dem Riesenmultikultifest verdankt. Der Karneval gebe Einwanderern die Gelegenheit, heißt es auf der Internetseite des Festes, „Präsenz zu zeigen, Zugehörigkeit zu demonstrieren und Berlin seine Internationalität erleben zu lassen“. Bis zu einhundert Gruppen jährlich haben in den vergangenen Jahren diese Gelegenheit genutzt und sich folkloristisch, mit künstlerischen und politischen Auftritten präsentiert: Migrantenvereine, Clubs, Tanzschulen, Jugendeinrichtungen, Schulen.

Doch seit Jahren wird in den Reihen der TeilnehmerInnen Unzufriedenheit und Kritik daran immer lauter, wie die Stadt mit dem Karneval umgeht: Sie sehen ihren Beitrag zu dem Fest und damit dem Image der Stadt nicht gewürdigt.

„Berlin brüstet sich mit dem Fest, wir machen die Arbeit“, lautet etwa Sonia de Oliveiras Fazit nach 16 Jahren Teilnahme. 1996 zog der Karneval mit etwa 2.000 TeilnehmerInnen zum ersten Mal durch Kreuzberg. Kurz darauf wurde die Sambalehrerin gebeten, mit ihrer Schule am nächsten Umzug teilzunehmen. 450 TänzerInnen und MusikerInnen brachte Amasonia ein Jahr später auf die Straße. 1998 hatte der Karneval bereits eine halbe Million Besucher – und Sonia de Oliveira Zehntausende Mark Schulden. Die hielten sie nicht davon ab, seither jedes Jahr mitzumachen: „Ich will ja kein Geld mit dem Karneval verdienen“, sagt sie. „Ich will Lebensfreude auf die Straße bringen, mit der Kultur meiner Heimat etwas für die Stadt tun, in der ich lebe. Ich liebe Berlin.“

Auch die Künstler-, Schauspieler- und MusikerInnen vom Verein Calaca, Deutsche und überwiegend spanischsprachige EinwanderInnen aus Süd- und Mittelamerika und Spanien, lieben den Karneval und seine Idee und sind teils von Anfang an dabei. „Damals war allein die Tatsache, dass Einwanderer zu einem solchen Umzug auf die Straße gehen, schon politisch“, sagt Calaca-Mitglied Ellen Häring. Es war die Zeit nach den großen rassistischen Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und Einwanderer und den darauf folgenden Einschränkungen des Asylrechts. „Da war es eine tolle Idee, dass diese Menschen sich zeigen, sich dort mit dem, was sie mitbringen und können, präsentieren“, sagt auch die gebürtige Peruanerin Carmen Rojas von Calaca.

Deshalb hat der Verein seine Performances auf dem Straßenumzug von anfangs eher folkloristischen Auftritten immer stärker zu politischen entwickelt. 2007 gewannen sie einen der Umzugspreise mit der Straßentheaterperformance „Invisibles“ über Menschen ohne Papiere und ihre Ausbeutung.

Beim diesjährigen Umzug wollte Calaca die Thesen des Bestsellerautors Thilo Sarrazin thematisieren, der prophezeit hatte, durch Einwanderung schaffe Deutschland sich ab. Im Programmheft des Karnevals heißt es dazu: „Viele bunte Kopftuchmädchen machen sich auf unseren sauber gefegten Straßen breit und vermehren sich rasant. Angesichts dieser Entwicklung sehen sich aufrechte Teutonen zur Migration gezwungen – wer will sie haben?“

Doch auf diese Performance werden die ZuschauerInnen vergeblich warten: Calaca hat sich entschlossen, in diesem Jahr nicht am Umzug teilzunehmen. Sie setzen stattdessen ein anderes Projekt um, für das der Verein eine Förderungszusage von einer Stiftung bekommen hat. In der Liste der Karnevalsveranstalter steht hinter dem Namen Calaca ein „F“: Absage aus „finanziellen Gründen“. Diese Liste ist lang: In diesem Jahr wird der Umzug um zwanzig Gruppen kürzer sein.

Dabei geht es auch Calaca nicht nur ums Geld. „Wenn wir Anerkennung bekämen für das, was wir für den Karneval und damit für die Stadt leisten, Wertschätzung, das wäre schon toll“, sagt Ellen Häring und erzählt von Gaststätten an der Zugstrecke, die KarnevalistInnen den Toilettenbesuch verweigerten. Das regt sie auf: „Statt die Leute rauszuwerfen, wenn sie mal aufs Klo müssen, könnten sie uns TeilnehmerInnen ruhig mal ein Essen oder Getränke spendieren“, meint Häring: „Denn der Karneval beschert denen doch allen einen Superumsatz.“

Ein zusätzliches Bruttoinlandsprodukt von mehr als 53 Millionen Euro habe der Karneval der Kulturen 2011 der Stadt beschert, hat die Investitionsbank Berlin errechnet. Der Schirmherr des Multikultifestes, Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, lobt im aktuellen Grußwort das Fest als „das kulturelle Highlight in Berlin“. Es sei „ein Magnet für Besucher aus aller Welt“, es zeige, „wie weltoffen und tolerant unser Land ist“ und dass „Vielfalt ein Gewinn für unsere Gesellschaft“ sei.

„Private Veranstaltung“

Die Stadt unterstützt die Organisation des Festes mit 270.000 Euro aus dem Etat der Integrationssenatorin, die vor allem für Logistik wie Absperrungen, Toiletten und Müllentsorgung gebraucht würden, wie die KarnevalsorganisatorInnen von der Werkstatt der Kulturen erklären. Einen Fonds von 100.000 Euro, aus dem Umzugsteilnehmer unterstützt werden könnten, fordern sie und viele Gruppen seit Jahren vom Land vergeblich. 2012 stieg deshalb bereits die brasilianisch-deutsche Gruppe Afoxe Loni aus, die den Karnevalsumzug seit seiner Entstehung angeführt und eröffnet hatte.

Doch auf den Fonds werden die Gruppen wohl auch künftig vergeblich warten. Und die Begründung dafür dürfte den KarnevalsprotagonistInnen kaum die ersehnte Wertschätzung vermitteln: Es handele sich beim Karneval der Kulturen um eine „private und ehrenamtliche Veranstaltung“, erklärt ein Sprecher von Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD). Deshalb könne der Senat keine weitere Finanzierung übernehmen.

Der Karneval als Privatvergnügen: In Sonia de Oliveiras Wohnung bedecken kurz vor dem Straßenumzug teils meterhohe Federkronen Wände, Sofas und Fußböden. Bis zu zehn Euro kosten manche der Federn – pro Stück. Die sorgfältige Aufbereitung und Aufbewahrung der Kostüme nach dem Fest ist deshalb unerlässlich – und jedes Jahr wieder ein Problem. „Wenn es beim Umzug regnet und ich die Kostüme nachher nicht ordentlich trocknen kann, sind sie unbrauchbar“, sagt Oliveira. „Davon wissen die Leute nichts, die uns beim Umzug zujubeln. Aber das ist die Wirklichkeit hinter dem Karneval.“

Es ist die Wirklichkeit hinter dem Phantombild von der strahlenden Sambatänzerin, die auch dieses Jahr wieder lächeln und ihr Gesicht in unzählige Kameras halten wird, um die Multikulturalität der Hauptstadt zu belegen. Die in Wirklichkeit einst Medizin studierte, weil sie Menschen helfen wollte, die dann die Lektüre von Hermann Hesse nach Deutschland verschlug, weil dessen Erzählung „Narziss und Goldmund“ der damals 19-Jährigen verhieß, dass das Leben noch mehr für sie bereit hielt, die ausgebildete Schauspielerin und Dramaturgin ist, sechs Sprachen spricht – und ihr Geld oft als Übersetzerin verdienen muss, weil es für sie schwer ist, an gute Bühnenengagements zu kommen – da helfen die Auftritte beim Karneval der Kulturen nicht. Im Gegenteil, sagt de Oliveira: „Man wird durch das Bild der Sambatänzerin als Schauspielerin nicht ernst genommen.“ Und oft sei es auch ihre Hautfarbe, ergänzt sie leise, wegen der sie Rollen nicht bekomme: Da zähle dann auch die Ausbildung an einer deutschen Schauspielakademie nicht.

Denn auch diese Erfahrung macht die gebürtige Brasilianerin und Wahlberlinerin – wie viele andere ProtagonistInnen des Karnevals. Das Versprechen von Respekt und Akzeptanz von Vielfalt, das Berlin mit dem jährlichen Fest gibt, wird im Alltag nur halbherzig eingelöst. Sicher sei Berlin weltoffener als manch andere Orte Deutschlands, sagt Oliveira. Aber das Gefühl, wirklich akzeptiert zu werden, „zu spüren, dass die Menschen sich freuen, dass man da ist“, sei, wenn überhaupt, auf diesen einen Tag beschränkt: „Wenn die Federn weg sind, sieht das wieder anders aus.“ Die PerformancekünstlerInnen vom Verein Calaca beobachten das Desinteresse an der Botschaft des Karnevals zunehmend auch beim Umzug selbst: Es sei schwierig geworden, sagt Ellen Häring, „mit einer politischen Message zu einem Publikum vorzudringen, das zum Teil gar keine Message mehr empfangen will, sondern saufen“.

Trotzdem steht auch für die Calacas fest: Hätten sie die finanzielle Förderung für ein anderes Projekt nicht bekommen, wären sie auch dieses Jahr wieder beim Karneval dabei – das sei eben „wie eine Art Verpflichtung“, sagt Ellen Häring. „Ich kann doch den Menschen nicht einfach wieder wegnehmen, was ich ihnen geben kann“, heißt das bei Sonia de Oliveira: „Lebensfreude! Das ist doch auch so etwas wie Sozialarbeit für die Stadt.“

Im Stress der Karnevalsvorbereitungen bleibt ihr selbst davon allerdings immer weniger. Mit gerade noch 15 bis 20 Personen wird Amasonia diesmal am Umzug teilnehmen – ohne Wagen, ohne eigene Musik. „Mehr kann ich nicht mehr stemmen“, sagt Oliveira. Ob sie im nächsten Jahr noch dabei sein wird, ist unklar. „Der Karneval hat Berlin weltweit als tolerante Stadt bekannt gemacht“, sagt sie. „Aber die Stadt schmückt sich mit fremden Federn.“