„Pömmelte ist ein schwieriges Pflaster“

Die Chefin der Diakonie Schönebeck in Sachsen-Anhalt, Annett Lazay, über den wiederholten Überfall auf einen zwölfjährigen äthiopischen Jungen, Stigmatisierung von Heimkindern und ihre Probleme mit mangelnder Intellektualität und Zivilcourage

INTERVIEW BARBARA BOLLWAHN

taz: Frau Lazay, stimmt es, dass der vorige Woche von Neonazis in Pömmelte schwer verletzte zwölfjährige äthiopische Junge von den gleichen Tätern schon einmal überfallen wurde?

Annett Lazay: Ja, vor einem halben Jahr. Einige der Täter waren damals schon dabei. Damals war es in Anführungsstrichen ein normaler Übergriff. Wie es üblich ist im Dorf, dass Kinder angerempelt, bespuckt oder verbal niedergemacht werden. Damals gab es keine Verletzungen und es wurde keine Anzeige erstattet.

Warum nicht?

Der Junge wollte das aus Angst vor weiteren Übergriffen nicht. In Absprache mit dem Jugendamt und den Eltern haben wir auf eine Anzeige verzichtet.

Wie kann man von „normalen Angriffen“ sprechen?

Die Kinder und Jugendlichen unserer Wohneinrichtung sind seit der Eröffnung 1996 immer wieder stigmatisiert worden, Rempeleien kamen öfter vor.

Woher kommt diese Stigmatisierung?

Das Heim war ein Fremdkörper im Dorf. Alles, was fremd ist, macht Angst. Und alles, was Angst macht, wird gemieden oder niedergemacht.

Wie sind Sie mit den Vorbehalten umgegangen?

Wir haben Grillfeste, Volleyballspiele, Martinsfeste mit der Kirchengemeinde bis hin zum Tag der offenen Tür veranstaltet. Alle hätten sich das Haus ansehen können.

Angenommen wurden die Angebote von den Bürgern nicht?

Erst seit zwei, drei Jahren kommt ganz langsam das Interesse. Verbunden mit einem Aha-Erlebnis, Mensch, ihr habt es ja richtig schön hier, und die Kinder sind gar nicht so schlecht, wie wir immer dachten.

Machen Sie sich keine Vorwürfe, damals keine Anzeige erstattet zu haben?

Wir haben das intensiv besprochen, sind uns aber einig, richtig gehandelt zu haben. Alles andere wäre ungesetzlich gewesen, weil es gegen den Willen der Sorgeberechtigten, des Kindes und des Jugendamtes gewesen wäre.

Ist das nicht eine Kapitulation?

Nein, wir haben eine Schutzverpflichtung dem Jungen gegenüber. Aber Sie ahnen, in welchem Konflikt wir stehen. Auf der einen Seite möchten wir solche Übergriffe öffentlich machen, um weitere zu verhindern. Auf der anderen Seite dürfen wir es nicht, weil Persönlichkeitsentscheidungen zu respektieren sind. Durch den aktuellen Fall sind Jugendämter, Familien und die Kinder selber ins Nachdenken gekommen und werden hoffentlich in Zukunft doch eher zu einer Anzeige neigen.

Wer hat vergangene Woche Anzeige erstattet?

Die Brutalität war dermaßen groß und die Körperverletzung derartig schwer, dass wir sofort Anzeige erstattet haben.

Der Überfall reiht sich ein in eine lange Reihe von rechtsextremistischen Überfällen in Sachsen-Anhalt. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber ich denke, es hat etwas mit Intellektualität zu tun, inwieweit Menschen selbständig nachdenken. Es hat mit Zivilcourage zu tun, die da ist oder nicht da ist. Und es hat auch mit einem sehr niedrig gehaltenen Horizont zu tun.

Wie sieht es in Pömmelte aus?

Wir kennen alle „Biedermeier und die Brandstifter“ und wissen, der Nährboden muss irgendwo herkommen. Pömmelte hat Anknüpfungspunkte zur neofaschistischen Szene, einzelne Erwachsene kommen aus der rechten Ecke. Die Haltung unserer Einrichtung gegenüber zeigt diesen Nährboden. Der Überfall hat also eine Geschichte.

Am Montagabend gab es ein Bürgerforum, nächsten Montag soll es einen runden Tisch geben. Was wird sich dadurch ändern?

Wir brauchen dringend einen Jugendclub mit pädagogischer Begleitung. Bis Oktober 2005 gab es einen Club mit einer ABM-Stelle, dann wurden die Gelder gestrichen. Wenn das Pflaster ein schwieriges ist, und Pömmelte ist ein schwieriges Pflaster mit einer hohen Neigung zur Aggressivität unter den Jugendlichen, kann das nicht über eine ABM-Kraft gelöst werden.

Und die Vorbehalte im Ort?

Die Menschen wollen mehr Zivilcourage zeigen, nazistische Plakate abreißen und, wenn sie beobachten, dass sich Kinder hänseln oder schlagen, das melden. Im Dorf muss bekannt werden, dass es einen Informationsaustausch über diese, verzeihen Sie den Ausdruck, diese Kacke gibt. Die Leute werden auch wachsamer sein, was mit dem Kriegerdenkmal passiert, an dem die NPD jedes Jahr in aller Stille eine Kranzniederlegung veranstaltet.