Nur ein Stilwechsel?

VON GERHARD DILGER

„Wer hätte vor zehn oder fünf Jahren gedacht, Freundinnen und Freunde“, ruft Michelle Bachelet am Wahlabend ihren begeisterten Anhängern zu, „dass Chile eine Präsidentin wählen würde?“

Deutlicher als erwartet hatte die 54-jährige Sozialistin gegen ihren konservativen Widersacher Sebastián Piñera mit 53 zu 46 Prozent gewonnen und damit den „Linksruck“ in Lateinamerika verstärkt. Nun gestattet sich die Siegerin, die im Wahlkampf immer betont zukunftsbezogen argumentierte, einen persönlichen Blick in die Vergangenheit: „Weil ich ein Opfer des Hasses war, habe ich mein Leben lang versucht, diesen Hass in Verständnis und Toleranz zu verwandeln, ja, und in Liebe.“

Dabei erinnert sie an ihren Vater Alberto. Der Luftwaffengeneral, bis zum Militärputsch im September 1973 ein loyaler Mitarbeiter des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, starb ein halbes Jahr später in den Kerkern des Militärregimes. „Von ihm habe ich die Liebe zu Chile und zu allen Chilenen unabhängig von ihrer Herkunft geerbt“, sagt sie ohne falsches Pathos.

Rasch wendet sie sich dann ihrem wichtigsten Regierungsprojekt zu: Nach einem „exemplarischen Übergang“ von der Diktatur zu einer Demokratie mit einer dynamischen Wirtschaft werde Chile die Welt „einmal mehr in Staunen versetzen“, sagt sie voraus. Es sei möglich, Wohlstand zu schaffen, ohne die „Seele zu verlieren“ oder die Umwelt zu verschmutzen.

Genau dies bezweifeln linke Kritiker. Wo Mainstreammedien von Chile als Wirtschaftsmusterland schwärmen, sehen sie eine demokratisch legitimierte Unternehmerdiktatur. Marcel Claude von der Umweltorganisation Oceana etwa beklagt die „unbarmherzige Ausbeutung der Fischbestände“ und verweist darauf, dass ein sozialistischer Senator im Wahlkampf offen das Geschäft der Lachsindustrie betrieben habe. „Das gesamte System wird von einem Prozent der Bevölkerung kontrolliert“, so Claude gegenüber der taz, „in Wirklichkeit wächst nur der Exportsektor.“ Auch die Kommunisten, die sich in der Stichwahl für Bachelet ausgesprochen hatten, fordern die Abkehr von umweltfeindlichen Großprojekten.

Der chilenische Politikwissenschaftler Guillermo Holzman glaubt allerdings, dass Bachelet, die zwar als „Linksaußen“ gilt, den neoliberalen und erfolgreichen Wirtschaftskurs ihres Vorgängers fortsetzten wird. In den vergangenen Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt um beachtliche sechs Prozent jährlich. Die Arbeitslosenquote liegt unter zehn Prozent. Allein 2005 flossen sieben Milliarden Dollar ausländischer Direktinvestitionen in das Land. Und mit 4.910 Dollar im Jahr liegt das Pro-Kopf-Einkommen um 60 Prozent höher als beim aufstrebenden Industrieland Brasilien.

Trotz allen Erfolgs ist die Kluft zwischen Reich und Arm weiterhin tief und leben immer noch rund 18 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Projekte der Vorgängerregierung für ein Mindesteinkommen blieben ohne große Wirkung. Bachelet will diese Vorhaben ausdehnen. Mit ihr beginne eine neue Etappe sozialer Gerechtigkeit, mit besserer Bildung und einer Rentenreform, hofft Ricardo Nuñez, Chef der Sozialistischen Partei. Bis zum Ende ihrer Amtszeit 2010 strebt die künftige Staatschefin den Aufbau eines Sozialsystems an, durch das „anständige Arbeitsplätze“, Schutz vor Krankheit und „Würde im Alter“ garantiert werden sollen. Bislang hatte die Mitte-links-Koalition die 1981 eingeleitete Privatisierung des Rentensystems fortgeschrieben.

„Ich werde sagen, was ich denke, und ich werde tun, was ich sage“, verspricht Bachelet. Ihre Regierung will sie ausgewogen mit den „besten Männern und Frauen“ besetzen – aber auch mit erfahrenen Kräften und „neuen Gesichtern“. Hier dürfte sich entscheiden, ob sie tatsächlich Reformen voranbringen kann oder ihr lediglich ein neuer Politikstil gelingt, da ihre Pläne in den verkrusteten und teils korrupten Apparaten der Regierungsparteien stecken bleiben.