Museumsführer durch den Jurassic-Park

China, übernehmen Sie! Siemens-Aufsichtsrat Heinrich von Pierer sorgte sich bei den Berliner Lektionen um Wohl und Wehe der Globalisierung

Im Saal ist kein Chinese, den man zur Rechenschaft ziehen oder um geheimen Rat fragen könnte. Das Berliner Bürgertum ist unter sich im eigenartig puppenstubenhaft wirkenden Renaissance-Theater, wo man immer fürchtet, sich den Kopf zu stoßen. Heinrich von Pierer, 35 Jahre im Dienst von Siemens und heutiger Gast der Berliner Lektionen, scheint vorauseilendes Einverständnis zu genießen. Vielleicht weil er in seiner Person alles vereint, was man sich bei einem deutschen Mann nur wünschen kann: Unternehmerkompetenz, Nähe zur Politik und Verantwortungsbewusstsein. Das sind ja gleich drei Dinge in einem, möchte man rufen, wie bei einem Überraschungsei.

Der Geladene wird von Herrn Manfred Lahnstein angekündigt und betritt das Podium für einen Vortrag, der vom anekdotisch gewürzten Optimismus einer Generalsansprache an die Truppen vor der Wirtschaftsschlacht bis hin zu den aus sonntäglichen Christiansen-Talks bestens bekannten Eckdaten deutschen Unternehmerglaubensbekenntnisses reicht. Mehr Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, mehr Wettbewerb in der Bildung, freie Forschung in Gen- und Biotechnik, mehr „Wandel durch Handel“ mit in Menschenrechtsdingen fragwürdigen Regimes, und alles mit viel Wachstum und Ruck.

Es hat schon etwas rührend Herrenreiterisches, wenn in Würde ergraute Männer sich der globalisierten Welt mit ihren neuen Mächten annehmen und die „Reservearmee“ chinesischer Wanderarbeiter gegen die der Inder aufwiegen. Vielleicht auch ein Hauch von Empire, dessen Zentrum nicht mehr die englische Königin, sondern der Stammsitz der Firma Siemens ist, solange man die Stellung halten kann. Denn schon heute beschäftige man, so von Pierer, zwei Drittel der Mitarbeiter im Ausland, und von denen könne nicht einmal mehr jeder etwas mit den Silvestergrüßen des Chefs anfangen, weil man dessen Namen gar nicht kenne.

Fifa, katholische Kirche, UNO, Coca-Cola und Siemens, das ist das Ranking der globalsten Institutionen. Wir sind also vorne mit dabei, aber nicht mehr lange, die Buddenbrooks lassen grüßen. Denn eigentlich ist das Spiel längst verloren, der „Fanatismus“, mit dem sich die flinken Asiaten in die Arbeit stürzen, mit dem dort Eltern selbstlos in die Ausbildung ihrer Kinder investieren, die atemberaubende Leistungsbereitschaft – wir haben es mit einer geradezu idealen Kombination von protestantischer Selbstausbeutung und kommunistischer Kontrolle zu tun.

Das Publikum ist zufrieden, seinem „dumpfen Gefühl der Bedrohung angesichts der Globalisierung“ (von Pierer) wurde Rechnung getragen. Wir wissen jetzt mehr über das, was unseren Kindern blüht, die Industrie wird aus unseren Breiten verschwinden, unsere Nachkommen werden sich in Zukunft nur noch die Autos beim Parken einweisen und sich gegenseitig zu Tode pflegen. Die Produktion übernehmen derweil die Chinesen.

Aber wo von Pierer selbst die Frage gestellt hatte, ob es nicht ethisch angemessener sei, durch Investitionen mehr für die 800 Millionen armer chinesischer Bauern zu tun, als mit dem gleichen Geld für die fünf Millionen deutschen Arbeitslosen jemals zu machen wäre – vielleicht sollte man einfach die chinesischen Bauern auf uns Europäer verteilen? Jedem einen persönlichen Hauschinesen, sodass wir gar keinen Finger mehr rühren müssen? Und warum sollten die Chinesen bei ihrer schon fast pathologischen Leistungsbereitschaft solch ein Angebot ausschlagen? Vielleicht hätten sie aber auch Freude daran, in einer Art konservatorischen Mission unseren alten Kontinent als Freiluftmuseum am Leben zu erhalten, als spannendes Bildungsevent für Chinesen und Inder. Ein Jurassic-Park der ausgestorbenen ökonomischen Vergangenheit, in dem Männer wie Heinrich von Pierer dann ja Museumsführungen übernehmen könnten.

JOCHEN SCHMIDT