Gemischte Gefühle

Heute in 30 Tagen beginnen die Olympischen Winterspiele. Die Stadt Turin wird durch die Umbaumaßnahmen noch schöner. Das Problem dabei: Sie werden erst nach den Spielen fertig

AUS TURIN ACHIM DREIS

Vom Dach des Grand Hotels hat man einen herrlichen Blick auf die imposante Gebirgskette rund um Sestriere, und auch die olympische Slalomstrecke liegt direkt vor der Nase. Signore Novara, der Hoteldirektor, erklärt in gestenreichem Italo-Englisch, wo die einzelnen Wettbewerbe ausgetragen werden. Dabei deutet er mal auf diesen, mal auf jenen Hang.

Hier, 2.206 Meter über dem Meeresspiegel und fünf Stockwerke über dem dünn verschneiten Tennisplatz der Luxusherberge, werden während der XX. Olympischen Winterspiele Fernsehstationen ihre Kameras aufbauen und Bilder aus Sestriere in die Welt tragen. Und umgekehrt wird die halbe Welt auf Sestriere schauen, zumindest der sportinteressierte Teil davon.

Signore Novara ist deshalb recht zuversichtlich, dass die Spiele, die heute in 30 Tagen beginnen, erfolgreich werden für sein Dorf – und natürlich auch für sein Hotel. Doch abschließend urteilen will er erst im März. Wenn alles vorbei und wieder so etwas wie Normalität eingekehrt ist. Zuletzt hatten nämlich die gemischten Gefühle überwogen. Und das nicht nur bei ihm.

Die für Wintersportnostalgiker ohnehin seelenlos anmutende Skistation Sestriere, einst von Fiat-Boss Agnelli entdeckt und aus dem Boden gestampft, wurde über Monate hinweg von Baggern und Baumaschinen beherrscht. Die Übernachtungspreise für den Olympia-Monat Februar sind so explodiert, dass die einfachen Skitouristen ausbleiben werden. Viele Stammgäste machen in dieser Saison ohnehin einen Bogen um das größte Skigebiet im Piemont. Grund: zu viel Lärm, zu wenig Flair. Ein Wärmeeinbruch kurz vor Weihnachten hatte auch noch die Schneemassen zusammenschmelzen lassen, die zuvor für so etwas wie Wintermärchen-Ambiente gesorgt hatten.

Wenigstens das hat einen Vorteil: Die schmale, kurvenreiche und ausschließlich zweispurige Passstraße von und nach Sestriere, Pragelato, Cesana, und wie die ganzen olympischen Austragungsstädtchen im Umland alle heißen, wird nur ohne Schnee einigermaßen gut passierbar sein. Unter wirklich winterlichen Bedingungen hingegen wird der Verkehr komplett zusammenbrechen, dafür muss man kein Stauforscher sein.

Knapp 100 Kilometer östlich, in der eigentlichen Olympiastadt Turin, liegt überhaupt kein Schnee. Das ist allerdings nicht so schlimm, denn hier werden nur überdachte Schlittschuhsportarten ausgetragen. Und obwohl man bei gutem Wetter die Berge sieht, käme man nie auf die Idee, Winterspiele in der Po-Ebene zu vermuten. Turin war einst die erste Hauptstadt des vereinten Italiens, versteht sich als Kultur- und Wirtschaftsmetropole und ist sportlich gesehen vor allem Spielort von Juventus.

Die barocke Altstadt mit ihren kilometerlangen Arkaden ist immer noch wunderschön, dank der Olympia-Umbauten wird sie sogar noch schöner: Zwei Tiefgaragen unter der Piazza San Carlo und der Piazza Vittorio minimieren Lärm und Stau – leider erst ab April, denn die Bauarbeiten leiden unter Verzug. Überhaupt ist es um die Wirtschaftskraft Turins wegen der anhaltenden Fiat-Krise nicht mehr ganz so gut bestellt. Und politisch liegt Turin mit Rom im Clinch.

Im Haushalt des Organisationskomitees Toroc klaffte zum Jahreswechsel ein Loch von rund 60 Millionen Euro. Der Fehlbetrag entspricht in etwa jenem Betrag, um den die rechte Regierung von Ministerpräsident Berlusconi zuvor Fördermittel für die Olympioniken gekürzt hatte. Im Rahmen ihres umfassenden Sparplans bei Sport und Kultur, wie es aus Rom hieß.

Eine politische Willkürentscheidung, vermutet dagegen Bürgermeister Chiamparino, der zum linken Lager gehört, genau wie die neu gewählte Chefin der piemontesischen Regionalregierung, Mercedes Bresso. Die Piemontesen machten zuletzt mit lautstarken Protesten gegen die Autobahn im ansonsten malerischen Susa-Tal von sich reden.

Sollte die Toroc mit dem ehemaligen Turiner Bürgermeister Castellani an der Spitze das Finanzloch nicht füllen können, droht ihr zwar nicht der Konkurs, wie erst verlautete, aber eine kommissarische Leitung von staatlicher Stelle. Womit Medienpräsident Berlusconi, dessen TV-Sender Mediaset übrigens Juventus Turin unterstützt, der selbst aber keinen Turiner Dienstwagen mehr fährt, weil ihn Fiat-Chef Luca di Montezemolo gelegentlich kritisiert, wieder ein Stück Macht über die aufständischen Norditaliener zurückgewinnen würde.

Davon unirritiert wurde auf dem Piazza Castello dieser Tage die Bühne für die abendlichen Medaillenzeremonien während der Spiele aufgebaut, damit schon mal die Vorfreude steigt. Und wer von den Flachland-Turinern schon jetzt ausprobieren will, wie Skifahren, Rodeln oder Biathlon eigentlich geht, kann dies im „Atrium“ auf der Piazza Solferino tun. Hier ist ein virtuelles Wintersportzentrum errichtet worden, in dem der Besucher sich per Joystick in diversen Disziplinen ausprobieren kann. Mit der Anzeige von Zwischenbestzeiten und Gesamtresultaten. Vielleicht ist dies ein Modell für die Zukunft? Es spart den Bau der kostspieligen Wettkampfstätten und minimiert den Verkehr.