Ein Schatz, den keiner will

Über 50 Jahre lang unterstützte die Stadt mittellose Künstler, indem sie ihnen Werke abkaufte. Entstanden ist eine Sammlung mit fast 15.000 Exponaten. Vor zwei Jahren lief die Förderung aus, und jetzt muss auch das Depot im Wedding aufgelöst werden. Nur, was soll mit den Kunstwerken geschehen?

Auch Georg Baselitz schloss 1964 einen Werkvertrag mit der Stadt. So richtig kannte ihn da die Kunstwelt noch nichtRund 150.000 Euro kostet die Miete, die Datenverwaltung und der Erhalt des „Neuen Kunstquartiers“ jedes Jahr

VON TINA HÜTTL

Auf einer geheimnisvollen Schatzkarte von Berlin wäre ein Fundort mit Sicherheit genau hier markiert: Mitten auf dem einstigen AEG-Werksgelände in Wedding liegt das Neue Kunstquartier. So unscheinbar wie der Name ist auch sein Versteck. Vorbei am Büro eines Professors für Verkehrstechnik der Technischen Universität – die TU hat hier ihren Technologie- und Informationspark – ruckelt ein verrosteter Lastenaufzug in den vierten Stock des backsteinernen Hauses 13.

14.800 Exponate von über 2.000 Berliner Künstlern aus über 50 Jahren Soziale Künstlerförderung lagern hier, hat der neugierige Schatzsucher vorab recherchiert. Rein zufällig ins Neue Kunstquartier verirren? – das passiert so gut wie nicht. Das Wissen um die nackten Zahlen wird dem gigantischen Fund aber nicht gerecht. Nur wer vom Aufzug den Weg durch die karge Fabriketage findet und durch die gläserne Tür des Depots tritt, bekommt eine vage Ahnung, was dahintersteckt. Doch die Sammlung umgibt eine gewisse Tragik: Sie ist ein Schatz, den keiner will.

Bunt zusammengewürfelt, hängen, stehen und liegen Ölgemälde, Fotografien, Installationen und Plastiken auf über 1.000 Quadratmetern. Von den schrägen Oberlichten fällt die schwache Wintersonne auf drei neongelbe Riesenzitronen, die wie zufällig in den riesigen Ausstellungsraum gekullert sind. Großflächige, grelle Ölgemälde hängen neben kleinen detaillierten Bleistiftskizzen. Und auf dem Boden zwischen den Trennwänden bilden überlebensgroße Holzmuscheln, eine aus Hartplastik gegossene Lampenattrappe und bronzene Körperteile einen Hindernisparcours. Alle Stilrichtungen sind vertreten, sodass das Auge zwangsläufig in all der ungeordneten Fülle hin und her springt. Helfende Namensschilder gibt es nicht.

Wessen Werk hier im Neuen Kunstquartier endete, der war meist unbekannt – und brauchte Geld. 1950 hat der damalige Oberbürgermeister Ernst Reuter ein „Künstlernotstandsprogramm“ eingerichtet. Die Idee: Bedürftige Künstler schließen Werkverträge mit der Senatsverwaltung. Sie erhalten einmalig Geld und überlassen dafür ihre Arbeiten der Stadt. Die konnte ihre Amtsstuben damit schmücken. Die Honorare der Künstler betrugen zwischen 2.000 und 6.000 Mark – je nach Name und Qualität des bisherigen Werkes wurden sie von einer mehrköpfigen Jury festgelegt.

Die über Jahrzehnte angehäufte Sammlung dokumentiert vor allem Zeitgeschichte. Während Andy Warhol in den 50er-Jahren längst Campbell’s Tomatensuppe verfremdete, kopierten die geförderten Berliner Künstler noch brav Park- und Stadtlandschaften. „Das hat die Jury damals von ihnen verlangt“, erzählt Brigitta Müller-Atohoun. Die freie Malerin und Bildhauerin, die selbst gefördert wurde, kennt die Sammlung gut. Als Honorarkraft hat sie die kürzlich abgeschlossene Inventur mitbetreut. Auch Georg Baselitz schloss 1964 einen Werkvertrag mit der Stadt und malte den „Grunewaldturm“ getreu nach der Natur. So richtig kannte ihn da die Kunstwelt noch nicht, obwohl er bereits mit Bildern wie „Der nackte Mann“ Aufsehen erregt hatte. Erst als er seine Figuren auf den Kopf stellte, kam er zu Berühmtheit und zu Geld.

Später gab die Stadt Stilrichtung sowie Thema des Werkes frei und taufte das „Notstandsprogramm“ in „Soziale Künstlerförderung“ um. Noch später wurde die zuvor beim Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben angesiedelte Künstlerförderung in die Hände der landeseigenen Investitionsbank Berlin (IBB) gelegt. Von der IBB erhoffte man sich eine professionellere Datenverwaltung aller Exponate und den Aufbau eines profitablen Verleihgeschäfts.

Am Prinzip des Werkvertrages hielten die Förderer über die Jahrzehnte fest – bis vor zwei Jahren. Ende 2003, als sich abzeichnete, dass auch die IBB keine selbsttragende Finanzierung des Künstlerprogramms schaffen kann, wurde das Programm aus Geldmangel unter der PDS-Sozialsenatorin Heide Knake-Werner eingestellt. Übrig geblieben ist nun weniger eine thematisch kohärente Sammlung als jede Menge gesammelter Kunst – über deren Wert und Zukunft seitdem heiß im Senat und im Abgeordnetenhaus diskutiert wird.

Zuletzt beschäftigte sich vor allem dessen Kulturausschuss mit der Frage „Wohin damit?“ Nicht nur die verschiedenen Parteien sind sich uneinig. Auch manches Kulturausschussmitglied ist unentschlossen, was mit dem Schatz geschehen soll. Alice Ströver, die grüne Vorsitzende des Ausschusses, gibt das offen zu. Sie wünscht ein Ende des „Herumvagabundierens“ und denkt laut über einen Verkauf nach, der zugunsten des Kulturetats gehen soll. Gleichzeitig hat sie jedoch Bedenken, ob das wohl „im Sinne der Künstler“ sei.

Ganz entschieden für eine „Auktion zu jedem Preis“ plädiert der ehemalige CDU-Kultursenator Christoph Stölzl, der ebenfalls Mitglied des Ausschusses ist. Für ihn muss Kunst zirkulieren, sonst verliert sie ihren Wert. Stölzl sagt Sätze wie: „Jedes Kunstwerk bekommt eines Tages den Preis, den es verdient“, und erinnert dabei an van Gogh, dessen Werke jahrelang für ein paar Gulden verschleudert wurden.

Auf rund neun Millionen Euro wurde der Wert der Sammlung in einem Gutachten festgelegt. Freilich handelt es sich dabei nur um den einstigen Honorar- und Materialwert der Werke. „Der Marktwert ist wohl weitaus geringer“, sagt Rainer Ehrke vom Landesamt für Gesundheit und Soziales. Als Leiter der Sozialen Künstlerförderung untersteht ihm die endgültige Abwicklung der Senatskunst. Dabei bereitet die gigantische Sammlung dem obersten Schatzhüter sichtlich Qualen. „Sie kostet nur und rentiert sich nicht“, analysiert Ehrke nüchtern. Er ist gelernter Kaufmann.

Das im Ausstellungsraum Sichtbare ist ja nur ein Bruchteil. Die eigentliche Schatzkammer ist der angrenzende Depotraum. Meterhoch stapeln sich hier gerahmte Gemälde dicht an dicht in Regalen. Um Kosten zu sparen, hat sie ein Umzugsunternehmen erst vor wenigen Wochen vom Keller hier hochgeschleppt. Am hinteren Ende der Raumes wurden Reihen von grauen Planschränken aufgestellt. Darin warten noch tausende ungerahmte Zeichnungen, Grafiken und Radierungen auf Licht. Und schließlich sind noch jede Menge Skulpturen in dem einzig verbliebenen Kellerabteil untergebracht.

Rund 150.000 Euro kostet die Miete, die Datenverwaltung und der Erhalt des Neuen Kunstquartiers pro Jahr. Darin sind die Personalkosten für den Leiter und seine drei festen Verwaltungsangestellten noch nicht eingerechnet. Bereits für den Haushalt 2007 hat der Senat diese Summe nicht mehr bewilligt, eine Lösung drängt also. Ehrke hat im Auftrag des Abgeordnetenhauses 2004 ein Konzept zur Verwertung der Sammlung erstellen lassen. Darin werden verschiedene Szenarien durchdekliniert: Verkauf, Auktionen übers Internet, Rückgabe an die KünstlerInnen, Übertragung an Museen oder die Zusammenführung mit dem brandenburgischen „Kunstarchiv Burg Beeskow“ finden sich unter anderem darin. Sie alle haben aber einen Haken – und der ist meist das Geld. So lehnten beispielsweise Museen, darunter die Berlinische Galerie und das Deutsche Historische Museum, den größten Teil der Werke dankend ab – es sei denn, sie erhielten zusätzliche Mittel vom Senat. Und auch die Künstler, heißt es, wollten keine Rückgabe.

„Die Rosinen der Sammlung sind natürlich längst herausgepickt“, sagt Ehrke, der – wie er sagt – zwar von Kunst nichts versteht, dafür umso mehr von Betriebswirtschaft. So hängt der „Grunewaldturm“ von Baselitz schon seit ihrer Eröffnung in der Berlinischen Galerie. Und auch die Arbeiten anderer, nach der Förderzeit bekannt gewordener Künstler wie Hannah Höch, Markus Lüpertz und Wolf Vostell sind aus den Kammern verschwunden. Für den „Rest“ hat die Verwaltung nun seit einigen Monaten einen Kundenservice aufgebaut, der die Kunstwerke vermarkten und verleihen soll. Ehrke ist jedoch sicher, dass sich das „nie finanziell rentieren“ wird.

Immerhin 85.000 Euro jährlich betragen die Einnahmen aus dem Vermietservice. Die „Artothek“, wie es jetzt heißt, hat einige namhafte Kunden wie die Deutsche Bahn oder das Hahn-Meitner-Forschungsinstitut. Zwischen drei und fünf Prozent des Versicherungswertes bezahlen sie für ein Jahr pro Kunstwerk. Betreut werden die Kunden von Künstlern, die als Honorarkräfte eine passende Auswahl zusammenstellen. Eva Bröckerhoff und Richard Harken haben gerade im Auftrag von Bahnchef Hartmut Mehdorn persönlich die drei Vorstandsetagen der Bahnzentrale am Potsdamer Platz ausstaffiert. Dazu haben sie ein Begleitheft über die ausgewählten Arbeiten verfasst. „Richtige Schätzchen“, sagt Bröckerhoff, „verbergen sich im Neuen Kunstquartier“. Ihre Lieblingsstücke, wie etwa eine fünfteilige Fotoserie von Frauenfüßen in Schuhen mit dem Titel „Shoeting“ hat sie nun für die Wände des Hahn-Meitner-Instituts ausgewählt. Die Kunden seien meist sehr zufrieden mit ihren Vorschlägen – nur in der Kantine wollten die Naturwissenschaftler die netzbestrumpften Füße und lackfarbenen Schnürstiefel dann doch nicht sehen.

Für Rainer Ehrke ist das Verleihgeschäft dagegen vergebliche Liebesmüh. Statt den Service auszubauen und ihn durch einfache Maßnahmen wie ein Internetportal mit einer Online-Werkschau populärer zu machen, würde er die Werke am liebsten nach Beeskow schaffen. Dort, auf einer Burg in der brandenburgischen Provinz, lagert bereits die gesammelte Auftragskunst der DDR – etwa 10.000 Werke. West träfe dann auf Ost – ohne Zweifel zwei interessante Zeitdokumente, doch wer kennt Beeskow?

Auch die PDS und ihr Kultursenator Thomas Flierl präferieren diese Verbannung. Flierl setzt sich derzeit dafür ein, die tatsächlichen Lagerungskosten für die benötigten Speicherräume in Beeskow zu ermitteln. In der günstigsten Variante kämen sie monatlich auf 60.000 Euro, schätzte er im Kulturausschuss. Doch allein für den Umzug und die Renovierung des Depots müsste der Senat um die 400.000 Euro locker machen. Und so bleibt die Zukunft ungewiss. Nur eins ist sicher: Ohne die Sammlung fehlte auf Berlins Schatzkarte eine wichtige Markierung.