IM MAUERSCHATTEN
: Newroz 1984

Im Sozialbaukiez von heute wirkt das Gebäude wie ein Luxusdampfer

Im Eingang vom Kaiser’s Brunnen-, Ecke Stralsunder Straße wirbt ein Plakat fürs kurdische Neujahrsfest 1984: Ein naiv gezeichneter, Ähren schwingender und die Faust reckender Bauer vor majestätischer Bergkulisse mit aufgehender Sonne kündet vom großen Spaß mit Folklore, Diaschau und Theater. Die Party soll um 19 Uhr in einem FU-Saal losgehen, das Datum fehlt, weil die Plakatecken etwas ausgefleddert sind. Aber darüber sollte man bei einem 28 Jahre alten Aushang hinwegsehen können.

Das archäologische Fundstück wurde durch Renovierungsarbeiten freigelegt, es hängt an prominenter Stelle im über Eck angelegten Eingangsbereich des Gebäudes, das einmal als Kaufhaus errichtet wurde. Die oberen Etagen stehen schon seit Ewigkeiten leer, und auch der Supermarkt füllt nur notdürftig die Weitläufigkeit von Parterre und Untergeschoss. Im Sozialbaukiez von heute wirkt das ehemals stattliche Gebäude mit seinen eleganten Bauhausrundungen wie ein gestrandeter Luxusdampfer, an eine Zeit erinnernd, als die Brunnenstraße noch Ku’damm des Nordens hieß und sich vom Rosenthaler Platz bis Gesundbrunnen Geschäft an Geschäft reihte, darunter ein gutes Dutzend größerer Kaufhäuser.

Nach dem Mauerbau war es mit dieser Glanzzeit endgültig vorbei, südlich der Bernauer Straße machte sich DDR-Muff, nördlich BRD-Mief breit. Keine zehn Meter vom 84er Newroz-Plakat klebt dazu passend auf einem kleinen, grün verwitterten Stromkasten ein halber 750-Jahre-Berlin-Aufkleber. Das Jubiläum wurde 1987 begangen, im Osten mit dem im Zille-Stil restaurierten Straßenzug am Kollwitzplatz, im Westen mit extrem wetterfesten Aufklebern. Man sollte die Ecke zur Freilichtausstellung erklären und in den Mauergedenkstreifen integrieren. Thema: Westberliner Alltagsleben im Schatten der Mauer. ANTON WALDT