KOMMENTAR VON KONRAD LITSCHKO ZUM DIESJÄHRIGEN 1. MAI
: Die neue Inhaltlichkeit

So sieht’s mal aus: Krawalle am 1. Mai sind nicht mehr. Schon in den Vorjahren war die Randale nur Randerscheinung. In diesem Jahr war der Tag so friedvoll wie noch nie.

Es hätte anders kommen können, marschierte doch noch am Vormittag in Berlin-Schöneweide die NPD. Die gut 3.000 Gegendemonstranten aber bestreikten die Neonazis unaufgeregt sitzblockierend. Auch die „Revolutionäre 1. Mai Demonstration“ zog – bis auf ein paar Steinwürfe und ein umgekipptes Auto – friedlich an ihr Ziel. Ähnlich beschauliche Bilder auch in Hamburg.

Folgerichtig schmückte sich die Polizei am Donnerstag mit einer Erfolgsbilanz. Nur 94 Festnahmen in Berlin, 54 verletzte Beamte – so wenige wie seit Jahren nicht.

Der Mythos Militanz also entschwindet dem 1. Mai. Die Frage ist: Was bleibt dann? In Berlin jedenfalls öffnete es den Blick für politische Anliegen. Kampf gegen Mietsteigerung, streikende Flüchtlinge, Widerstand gegen Neonazis und die sozialen Verwerfungen der EU-Krise – selten war das Angebot inhaltlich breiter. Und es wird angenommen: Mehr und mehr Menschen besuchen die Demonstrationszüge, schon am Vorabend wurde gegen Gentrifizierung und rechte Szeneläden protestiert.

Auch dass die Demo der Autonomen ihre erste Reihe einer Delegation griechischer Oppositionspolitiker überließ, war mehr als eine Geste. So erhielt die Allzeitformel der „internationalen Solidarität“ auch eine Umsetzung. Die Frage nach der Repolitisierung des 1. Mai ist beantwortet.

Und doch waren es ausgerechnet die Radikalos selbst, welche die neue Inhaltlichkeit fast in den Hintergrund rückten. Indem sie schwärmten, „endlich“ vor das Brandenburger Tor gelangt zu sein. Ohne zu erklären, was sie dort überhaupt wollten.

Für die Szene hat die Diskussion damit erst begonnen: Was unterscheidet sie noch von den anderen Protestlern am 1. Mai? Was bedeutet an dem Tag noch die „Unversöhnlichkeit“ mit dem System? Sollte das bloße Ziel eine zu Ende gebrachte Demonstration sein, hätte man das auch einfacher haben können. Mit einer Bitte um Aufnahme bei den Gewerkschaften. Die versammeln sich auch dort, am Brandenburger Tor. Wie jeden 1. Mai.