„Mama geht jetzt in die Schule“

Buchstaben waren ihr egal: Maria Braun gehörte zu den vier Millionen AnalphabetInnen in Deutschland. Jetzt lernt die 37-Jährige Lesen und Schreiben – ein Schritt, der ihr Leben verändert

VON VERONIKA DE HAAS

Das Einzige, was sie aus dem Schulunterricht in den 70er-Jahren mitgenommen hatte, war ihre Unterschrift. „Maria Braun“ konnte sie schreiben. Aber was die einzelnen Buchstaben bedeuteten, wusste sie nicht. Maria Braun war bis vor kurzem Analphabetin.

Als problematisch hat die 37-Jährige das nie empfunden. „Ich habe einfach mehr geredet.“ Man glaubt es ihr gerne. Die Frau mit dem strahlenden Lachen ist um keine Antwort verlegen. Verheimlicht hat sie ihren Analphabetismus nie. Selbst nicht vor den Handelsvertretern an der Tür, die ihre Situation dann ausnutzten. Braun setzte gern ihre Unterschrift unter deren Angebotsformulare: „Sie taten mir irgendwie Leid.“ Die Unterschrift hatte keine Bedeutung für sie, Buchstaben waren ihr egal. Schließlich hatte sie eine Rechnung von 1.500 Mark für einen Staubsauger zu bezahlen. Und ein Jahresabo einer Illustrierten an der Backe.

Dass Maria Braun nicht richtig schreiben gelernt hat, lag an der Lebensform ihrer Familie. Als halb sesshafte Sinti und Roma zog sie in den Sommermonaten durch das Land. Zwar hatte Maria Braun ein so genanntes Reisebuch, mit dem man sich bei den örtlichen Schulen melden musste. Aber häufig ist sie dann als Schulanfängerin mit den anderen mitgereisten Kindern in die vierte Klasse gegangen und oft auch gar nicht. Als sie mit 14 heiratete, bedeutete dies auch das Ende ihrer Schulkarriere. Das ist – in wenigen Worten – die Geschichte, wie Maria Braun eine von vier Millionen Analphabeten in Deutschland wurde.

In Berlin kann etwa jeder Zwanzigste nicht ausreichend lesen und schreiben. Oft sind es Menschen, ähnlich wie Maria Braun, in deren Leben Lesen und Schreiben keine Rolle spielt. Sie benutzen das in der Schule gelernte „Handwerkszeug“ im Alltag nicht und vergessen es so wieder. Die Ergebnisse der Pisa-Studie geben der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Anlass zur Sorge. Sie mahnt deswegen in ihrem Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung des Analphabetismus: „Die Problemschüler von heute sind die Analphabeten von morgen.“

Doch Analphabetismus ist kein reines Problem bildungsschwacher Schichten. Häufig sind Lese-Rechtschreib-Schwächen auch auf psychische Ursachen zurückzuführen. Sie wirken sich dann auf das Lernverhalten der Kinder aus. „Solche Kinder übernehmen nicht selten, ähnlich wie beispielsweise solche mit Essstörungen, in ihren Familien eine zentrale Funktion“, weiß Ute Jaehn-Niesert vom Arbeitskreis Orientierung und Bildung (AOB), der seit fast 30 Jahren Erwachsenen lesen und schreiben lehrt. Die ganze Familie strukturiere sich um das „kranke“ Kind. Wenn es aufhört, Sorgenkind zu sein, könne dies existenzbedrohend für die Familien wirken. Deshalb würden solche Kinder sogar durchs Abitur geschleift mit Hilfe von Sonderkonditionen, die ihm die Diagnose „Legasthenie“ einbringt. Auf ein eigenständiges Leben sind sie selten vorbereitet.

„Lesen lernen kann jeder“

Dabei kann „jeder lesen und schreiben lernen“, ist Jaehn-Niesert überzeugt. Eltern und Lehrer müssten dabei auf das Lerntempo und möglicherweise tiefer liegende Probleme des Kindes eingehen. Je später das Problem angegangen wird, desto größer ist die Gefahr, dass sich ein Komplex entwickelt, unfähig oder gar „zu dumm“ zu sein.

Viele der 15- bis 70-Jährigen, die bei AOB lernen, brauchten mehrere Anläufe, bis sie gewagt haben, die angebotene Hilfe wirklich in Anspruch zu nehmen. Oft sind es äußere Umstände, die ausschlaggebend für diesen Schritt werden – etwa die Einschulung der eigenen Kinder. Maria Braun bedauerte erstmals mit Anfang 20, dass sie nicht lesen konnte. Damals erkannte sie, dass der Analphabetismus ihr die Verwirklichung ihres Traums verbaute, Krankenschwester zu werden. Ihre beiden Söhne hat sie daher streng zur Schule geschickt: „Ich wollte, dass sie einen Beruf haben.“

Für sich selbst, glaubte sie damals, wäre alles zu spät. Sie dachte, sie müsste noch mal mit Erstklässlern die Schulbank drücken. Erwachsenenbildung kannte sie nicht, bis sie zufällig an AOB in Kreuzberg geriet. Inzwischen lernt Braun dort seit über einem Jahr. Ihre Söhne necken sie manchmal und sagen: „Mama geht jetzt in die Schule.“

Als Erstes wurde ihr der Unterschied zwischen Laut- und Schriftalphabet erklärt. „Das ist wichtig, denn wenn man nur das Schriftalphabet kennt, würde man Beate ja Bat schreiben“, erläutert Jaehn-Niesert. Im Gegensatz zu Menschen, die im Grundschulalter lesen gelernt haben, sehen Analphabeten ein Wort, das sie hören, nicht direkt geschrieben vor sich. Sie brauchen „Krücken“: Rechtschreibregeln etwa, oder sie müssen Wortarten bestimmen und versuchen, selbstständige Formulierungen zu verfassen. Kurz: Sie müssen anfangen, über Sprache nachzudenken.

Die Alphabetisierung von Erwachsenen ist nicht unproblematisch. Lernende müssen Rückschläge verkraften, viele fragen sich, wenn sie merken, dass sie doch lesen und schreiben lernen können: „Warum bin ich nicht früher hergekommen?“. Solche Probleme versuchen die Mitarbeiterinnen bei AOB abzufangen, indem sie neben dem Unterricht immer auch psychologische Beratung anbieten. Auch Maria Braun hat sich das gefragt. Aber „die große Verzweiflung“, versichert sie, sei nun vorbei. Die Hoffnung auf einen anderen Job als den einer Aushilfskraft hat sie schon fast aufgegeben. „Ich bin doch schon fast vierzig!“

Zum Unterricht geht sie trotzdem regelmäßig. Mit dem Lesen und Schreiben habe sich ihr eine ganz neue Welt eröffnet. „Das ist, als wenn Sie immer denken, Sie sind in Köln, dabei sind Sie in Berlin“. Inzwischen geht sie mit Einkaufszettel einkaufen und kann Rechnungen entziffern. Aber am liebsten lässt sie sich immer noch vorlesen. Und manchmal passiert es ihr heute trotzdem noch, dass sie eine Zeitung liegen sieht und gar nicht auf die Idee kommt, sie zu lesen.