Gedächtniskultur und Gedenkpolitik

Die Chronik einer stadtöffentlichen Erinnerungskultur von Politik, Kultur und Forschung in Hamburg: Die Historiker Peter Reichel und Harald Schmid haben einen notwendigen Beitrag zur geschichtspolitischen Debatte über die Überwindung und Bewältigung des Nationalsozialismus geschrieben

Rezensionen von Sachbüchern sollten unter Abwägung von Inhalt, Ausführung und Form zu einem ausgewogenen Urteil kommen und einen gewissen Abstand zum Gegenstand halten. Im Falle des jetzt erschienen Essaybands „Von der Katastrophe zum Stolperstein – Hamburg und der Nationalsozialismus nach 1945“ ist vornehme Zurückhaltung jedoch unangebracht.

Denn die Autoren Peter Reichel und Harald Schmid haben in der Reihe „Hamburger Zeitspuren“ des Hamburger Verlages Dölling und Galitz einen vierten Band veröffentlicht, der einen glänzend geschriebenen und analytisch hervorragend Beitrag zur Erinnerungs- und Gedächtnispolitik in Hamburg nach 1945 darstellt.

Auf knappen und vergleichsweise schmalen 130 Seiten spannen Reichel und Schmid den Bogen der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen in Hamburg vom Kriegsende bis in die unmittelbare Gegenwart. In ihrem einführenden Kapitel „Gedächtnis der Stadt“ umreißen sie die zentralen Konflikte der Erinnerungspolitik, die die anfängliche Amnesie und Amnestie zu Beginn bis hin zu den jüngeren Konflikten um die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen KZ Neuengamme, um den Kriegsklotz am Dammtor und den Jüdischen Friedhof in Ottensen umfassen.

Die Autoren zeichnen eine stadtöffentliche Erinnerungskultur von Politik, Kultur und Forschung nach, die sich bis Ende der Sechzigerjahre wesentlich in der Beschwörung einer „schicksalhaften Katastrophe“ unter dem „hypnotischen Einfluss eines Demagogen“ erschöpfte. Das insbesondere in der Politik gehandelte ideologische Gegenbild war jenes der Legende vom „liberalen, weltoffenen Hamburg“, demzufolge die Hamburger nach 1933 auf Distanz zum Nationalsozialismus geblieben seien. Die Tatsache, dass zum Beispiel das KZ Neuengamme als Erinnerungsort einen „gleichsam extraterritorialen Status weit vor den Stadttoren“ hatte, mag die Verdrängungsarbeit erleichtert haben.

Reichel und Schmid zeigen, dass es vor allem dem beharrlichen Kampf der Opfer und Überlebenden zu verdanken ist, dass „eine über weite Strecken beschämende geschichtspolitische Hamburgensie“ heute zu einem halbwegs würdigen Ort des Gedenkens geworden ist.

Eine Art Paradigmenwechsel lässt sich in den Siebzigerjahren verorten. Später als an anderen Hochschulen begann sich an der Hamburger Universität so etwas wie ein „kritisches Universitätsgedächtnis“ zu entwickeln, Forschungsergebnisse aus den Fachdisziplinen der Geschichts- und Politikwissenschaften veränderten den Umgang mit Überlebenden, aber auch mit erinnerungspolitischen Orten und Daten.

Es ist den Autoren Reichel und Schmid nicht nur gelungen, den zuweilen beklemmenden und beschämenden Prozess von der Erinnerungsverweigerung hin zur öffentlichen Auseinandersetzung um eine angemessene Gedächtniskultur darzustellen. Gleichzeitig sparen sie nicht mit selbstkritischen Hinweisen auf die zwiespältige Rolle der eigenen Historikerzunft und scheuen ebenso nicht die engagierte Kommentierung der Verdrängungsleistungen in Politik und Kultur.

Es bleibt zu resümieren, dass sie mit ihrem Band einen kompakten und nunmehr unverzichtbaren Beitrag zur Chronik der geschichtspolitischen Debatten in Hamburg geschrieben haben. Andreas Blechschmidt

Peter Reichel, Harald Schmidt: „Von der Katastrophe zum Stolperstein.“ Hamburg und der Nationalsozialismus. Hamburg 2005, 100 S., 8 Euro