„Zugehende Hilfe“

VON COSIMA SCHMITT

Die neue Familienministerin will ein Zeichen setzen: gegen Gewalt im Kinderzimmer, für ein Leben ohne Prügel und Ohrfeigen. Dafür wählt Ursula von der Leyen (CDU) einen Begriff, der eher in der Naturkatastrophenvorhersage beheimatet ist. Sie will ein „Frühwarnsystem“ schaffen, das Kindesmisshandlungen verhindert oder sie zumindest rasch erkennt.

Von der Leyen möchte gefährdeten Familien mehrere Jahre lang professionelle Helfer ins Haus schicken. Vorbild ist ein Versuch, den von der Leyen noch als Ministerin in Niedersachsen angeregt hat und der dort im April startet: 200 Familien erhalten dann von der Kindesgeburt bis zur Einschulung „zugehende Hilfe“ – jede Woche einmal kommt eine Hebamme oder Familienpflegerin. Ob das Modell eins zu eins auf die Bundesebene übertragbar ist, hält sich das Familienministerium noch offen. „Das Hauptproblem ist: Wie kann man Risikofamilien ausmachen?“, so eine Sprecherin. „Ein Weg führt über die Gynäkologen.“

Wie dringend die Politik handeln muss, zeigt eine Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef. Demnach sterben jede Woche in Deutschland zwei Kinder, weil sie misshandelt oder vernachlässigt wurden. Auch das Bundeskriminalamt weiß, wie alltäglich die Gewalt ist. Laut neuester Statistik ist die Zahl gemeldeter Misshandlungen von Kindern unter 14 im Jahr 2004 mit 2.916 Fällen gegenüber dem Jahr 1994 fast um das Doppelte gestiegen (1.915 Fälle). Dies heißt zwar nicht zwangsläufig, dass mehr Kinder als zuvor geprügelt werden. Womöglich sind heute Nachbarn oder Lehrer lediglich sensibilisierter dafür, dass Gewalt kein legitimes Erziehungsmittel ist. Immerhin aber belegt die Statistik, dass die gängigen Kontrollorgane Schule und Jugendamt allein nicht ausreichen.

Medienpräsente Extremfälle wie der der kleinen Jessica, die ihre Eltern verhungern ließen, haben das Problembewusstsein geschärft. So steht von der Leyens mit ihrem Vorschlag nicht allein da. Derzeit überbieten sich mit Politiker mit Ideen für einen besseren Kinderschutz. Viel diskutiert ist ein Vorschlag, den das Saarland in den Bundesrat einbringen will: Der regelmäßige Besuch beim Kinderarzt soll Pflicht werden. Dann kann der Fachmann eingreifen, wenn er ein Kind als verwahrlost oder misshandelt erkennt. Die Idee findet bundesweit Anhänger. Unicef-Sprecher Rudi Tarneden etwa spricht von einer „wichtigen Initiative“. Kerstin Griese, Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, pflichtet bei. „Wir müssen staatlich mehr eingreifen, damit die Vorsorgeuntersuchungen verpflichtend wahrgenommen werden“, sagte die SPD-Politikerin. „Wir unterstützen verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen“, sagt auch Miriam Gruß, Kinderexpertin der FDP. Von der Leyen hingegen lehnt den Plan ab. „Das Ministerium hält es für besser, Hilfe anzubieten statt Zwang auszuüben“, sagt eine Sprecherin.

Wolfram Hartmann, Präsident des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte, empfiehlt das Druckmittel Geld: Nur wenn Eltern ihre Kinder regelmäßig zur ärztlichen Vorsorge bringen, sollen sie Kindergeld erhalten. Auch hier äußert sich das Bundesfamilienministerium ablehnend – schließlich soll das Geld vom Staat Kindern das Existenzminimum sichern.

Umstritten ist auch der Vorstoß vom Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU). Er plädiert für verbindliche „Erziehungsgespräche“ zwischen Eltern und Lehrer, die jedes halbe Jahr stattfinden sollen. Eltern hätten „ihre Teilnahme genauso wahrzunehmen wie Schüler die Teilnahme am Unterricht“. Uto R. Bonde vom Deutschen Familienverband hingegen rät zu freiwilligen Offerten: „Statt einer Flasche Sekt muss es für Arbeitnehmer bei der Geburt eines Kindes künftig Gutscheine für Eltern- und Bildungskurse geben.“ Gesetzeszwang oder Appelle an die Einsicht – noch konkurrieren beide Modelle.