Mit Marx auf den Mond

POLITPOP Ausgewogene musikalische Schönheit und deutliche politische Aussagen: Die Stereolab-Sängerin Lætitia Sadier stellt ihr zweites Solo-Album „Silencio“ vor. So bezaubernd klang an Marx orientierte Kapitalismuskritik doch recht selten

VON MICHAEL SAAGER

Als der liebe Gott die Gesangsstimmen verteilte, wurde Lætitia Sadier reich bedacht. Mit mal sternenklarer, mal leicht verträumter, immer aber sonorer Nonchalance singt das Gründungsmitglied der großartigen britischen Elektronik-Post-Rock-Band Stereolab seit nunmehr 21 Jahren jazzgewogene oder dem Krautrock zugeneigte, jedenfalls für Popverhältnisse ungewohnt komplizierte Melodien. Sie tut das mit erstaunlicher Leichtigkeit. Und mit einer heiter-zärtlichen Melancholie, die im Grunde nicht von dieser Welt sein kann.

Diese bemerkenswerte, 1968 in Frankreich geborene Frau, die an analogen elektronischen Vintage-Gerätschaften oder an der E-Gitarre beinahe eine so gute Figur macht wie hinterm Mikrofon, hat im Sommer letzten Jahres ihr zweites Soloalbum eingespielt. „Silencio“ heißt es, und man darf sagen, bezaubernder klang an Marx orientierte Kapitalismuskritik selten. Ach ja, könnte man nun eventuell einwenden, da folgt sie doch nur dem Zeitgeist der Kritik: Wenn etwas hoch im Kurs steht, dann feuilletonistische Stoßgesänge im Chor gegen Rating-Agenturen, Finanzkapitalismus und stetig größer werdende Klassengegensätze.

Sadier indes „wettert“ in ihren Texten seit vielen Jahren gegen die Ungerechtigkeiten der globalisierten Welt. Zudem erzeugt hier, auf „Silencio“, der Gegensatz von klanglicher Feinstofflichkeit beziehungsweise ausgewogener musikalischer Schönheit einerseits und sehr deutlichen politischen Aussagen andererseits den ästhetisch-intellektuellen Mehrwert.

Wenn Pop und politische Kritik zusammengehen, ist es ja meist so, dass sie dabei ordentlich laut Krach schlagen. Um bloß nicht überhört zu werden. Das Punk-Erbe will es so, Sadier aber nicht. Und so singt sie mit dieser Stimme, mit der man unbedingt mal auf dem Mond spazieren gehen möchte: „Rating agencies, financial markets and the G 20s, but who are these people? And why on earth do we care about their opinion? What do we care about their self-proclaimed authorities? … In the name of what are we letting them govern our lives? They are politically illegitimate.“

Unter Mitwirkung der befreundeten Kollegen Tim Gane, ihrem Partner bei Stereolab (die Band liegt derzeit auf Eis), Sam Prekop von The Sea and Cake und James Elkington geht es auf „Silencio“ – wie schon zuvor auf ihrem ersten Soloalbum „The Trip“ (2010) – weniger um das rockende Kraut-Hypnose-Gefühl früher Platten Stereolabs. Geboten wird klassischer Lounge-Pop, mal unter leichtem Bossa-Einfluss, mal grundiert von afrikanischen Rhythmen, musikalisch stets auf höchstem Niveau. Unspektakulär klingt das, aber so soll es sein. Lounge-Pop war ja stets was für flauschige Sessel in gemütlichen Bars und nichts für Freunde amtlicher Nagelbretter.

Eine funky Gitarre erklingt, die Moog- oder Korg-Synthesizer verrichten Dienst im „Outer Space“, indem sie gewohnt seltsam blubbern und zirpen. Sadier tut derweil, was sie immer tut. Sie lädt die Atmosphäre hell auf durch ihren unvergleichlichen Gesang, der auch deshalb so klug klingt, weil sie tatsächlich ein paar wichtige, kritikwürdige Punkte treffsicher benennt. Und weil das im Pop viel zu selten geschieht, braucht es Künstlerinnen wie Lætitia Sadier – unbedingt.

■ Di, 23. 4., 21 Uhr, Molotow