Riesenhunger nach Kultur

Spaziergang in Clichy-sous-Bois. In dieser Pariser Vorstadt begann die Randale, die weite Teile der französischen Vorstädte erfasst hat. Die Jugendlichen in der Banlieue musizieren, texten und tanzen. Aber sie bleiben unter sich – im Ghetto

von DOROTHEA HAHN

Bei fließendem Verkehr ist Clichy-sous-Bois nicht einmal eine Viertelstunde vom Pariser Stadtrand entfernt. Vorausgesetzt, man hat ein Auto. Die meisten Parktaschen vor den schmucklosen Wohnblocks der östlichen Vorstadt sind allerdings ungenutzt. In Clichy-sous-Bois gibt es nur ein Auto pro zehn Einwohner. Und keinen eigenen Anschluss an Métro und S-Bahn.

„Wir stehen hier unter Hausarrest“, sagt der 19-jährige Djamel. „Die Jungen kommen nicht weg. Das ist Teil des Problems“, sagt ein Lokalpolitiker. Der Name seiner 28.000-Einwohner-Stadt geriet Ende Oktober in die internationalen Schlagzeilen. In Clichy-sous-Bois begann die Randale, die weite Teile der französischen Vorstädte erfasst hat.

„Die Einzigen im Saal, die garantiert keine Steine geworfen haben, sind die Mädchen“, sagt ein Sozialarbeiter, „alle anderen haben es zumindest erwogen.“ Zwei Monate nach der Randale ist das permanente Katz-und- Maus-Spiel zwischen „flics“ und „jeunes“ – Bullen und Jugendlichen – eines der großen Themen des letzten Rap-Abends des Jahres im Espace 93. Örtliche Rapper erzählen im Stakkato-Sprechgesang von ihrem Leben. Sie haben den Auftritt monatelang vorbereitet. Im mehrhundertköpfigen Publikum sorgen ein paar Bleichgesichter für farbliche Abwechslung. Die Mehrheit ist schwarz.

In Clichy-sous-Bois sind in manchen Straßenzügen mehr als 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. Aber es gibt ein engmaschiges Netz von Vereinen, die vom Rathaus unterstützt werden. In allen links regierten Vorstädten ist Kulturarbeit oberste Priorität. Die Jugendlichen in der Banlieue musizieren, texten, tanzen und machen zunehmend auch Theater. Die Banlieue gilt im 12 Kilometer entfernten Paris als kulturelle Wüste. Man kann sein Leben in Paris verbringen, ohne die Banlieue zu besuchen. Die Stadtautobahn trennt sie wie eine Befestigungsmauer voneinander: die 1,8 Millionen Pariser von den mehr als 8 Millionen Banlieusards.

In Clichy-sous-Bois haben die unterschiedlichen Einwanderer jahrzehntelang einträchtig zusammengelebt. Die Vorfahren der drei befreundeten Jungen, die am 27. Oktober in ein Trafo-Häuschen gerannt sind, in dem zwei Jungen starben und zu Auslösern für die Randale im Land wurden, stammen aus drei verschiedenen Regionen: Westafrika, Nordafrika und Türkei.

Doch immer häufiger verlaufen die Wege der Einwanderer getrennt. Während junge Leute aus afrikanischen Familien Rap hören, treffen sich „Beurs“, Nachfahren arabischer Einwanderer, in einem erst im Sommer eröffneten Fastfood-Lokal in Clichy-sous-Bois. Der Beurger King Muslim (BKM) kopiert Innenarchitektur und Speisekarte von US-amerikanischen Vorbildern. Aber seine Menüs sind „hallal“. Das „bacon“ stammt nicht vom Schwein, sondern von einem Rindvieh. Die Betreiber des ersten BKM Frankreichs wehren sich gegen den Vorwurf, sie würden mit ihrem religiös definierten Unternehmen einen Keil zwischen die Einwanderungsgruppen treiben. Aber wenige Monate nach der Eröffnung ist ihr Lokal zum Treffpunkt von Jungen geworden, die gekleidet sind wie Bin Laden.

Am gemischtesten ist das Publikum in Clichy-sous-Bois beim Theater. Alte und junge, weiße, braune und schwarze Leute schauen sich an diesem Abend ein Molière-Stück an. Sie sitzen auf den harten Bänken eines Zirkuszelts, das erst vor wenigen Wochen auf einem Fußballplatz in Clichy-sous-Bois aufgestellt worden ist. Die Gemeinde will das Chapito als zweiten festen Veranstaltungsort behalten. Theaterregisseur André Valverde und seine Truppe „La fontaine aux images“ hat zuletzt Brecht aufgeführt. Bei jeder Inszenierung holt er neben Berufsschauspielern auch Jugendliche aus Clichy-sous-Bois auf die Bühne. Seine Zielgruppe sind die Bewohner eines Orts, in dem 16 verschiedene Sprachen gesprochen werden und viele erst im Kindergarten Französisch hören. „Hier gibt es keinen Mangel an Kultur“, sagt Valverde, „es gibt einen Riesenhunger nach Kultur.“

Öffentliche Verkehrsmittel von Paris nach Clichy-sous-Bois: „RER E“ nach Le Raincy–Villemomble–Montfermeil, dann Bus Nummer 601Programme: www.clichy-sous-bois.fr