Flucht nach Kambodscha

Neue Kultursenatoren, die Rückkehr des Patriarchen, die Meta-Regionalisierung der taz, Überwachungskameras im Bremer Theater und das Vegesacker Akkordeon-Festival: ein vorauseilender Rückblick auf das Jahr 2006

Kultursenator Röwekamp veranlasst Überwachungskameras im Bremer Theater, damit Deckungslücken im Theaterhaushalt sofort auffallen

10. Januar: Auf dem Neujahrsempfang der Hanseatischen Veranstaltungs-Gesellschaft (HVG) kommt es zu einem Zwischenfall. Weil keine Eimerchen bereitstehen, entsorgt Kultursenator Jörg Kastendiek (CDU) seine ausgeschlürften Austernschalen flugs unter dem Tisch. Eine Servicekraft rutscht auf einer der Schalen aus.

12. Januar: Auf einer Premierenfeier am Bremer Theater wird ein Tonbandmitschnitt des HVG-Empfangs abgespielt. Angeblich stammt er aus dem offiziell geschlossenen „Humorspeicher“ von Radio Bremen, in dem missratene O-Töne archiviert werden. Deutlich zu hören sind der Sturz der Servicekraft, sowie ein schepperndes Lachen Kastendieks und das gleichzeitige Knacken einer Austernschale. Die Grünen erinnern an Gloysteins Sekt-Attacke und fordern daraufhin den Rücktritt des Kultursenators.

13. Januar: In einer Stellungnahme erklärt Kastendiek, dass er die Praxis des „Humorspeichers“ von Radio Bremen schon vor Monaten scharf kritisiert habe. Das O-Ton-Archiv schade den Interessen Bremens. Kulturstaatsminister und CDU-Landesvorsitzender Bernd Neumann fordert eine Sondersitzung des Rundfunkrats und schließt Entlassungen der verantwortlichen RedakteurInnen nicht aus. Auch CDU-Fraktionschef Hartmut Perschau stellt sich hinter Kastendiek. Der Vorfall sei bedauerlich, aber nicht überzubewerten.

17. Januar: Bausenator Jens Eckhoff (CDU) bezeichnet Kastendieks Reaktion in einem Interview als „eher unglücklich“. Es sei jedoch allein Kastendieks Entscheidung, ob er weiter im Amt bleibe oder nicht.

18. Januar: Nach einer Unterredung mit Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) erklärt Kastendiek seinen Rücktritt vom Amt des Kultursenators. Böhrnsen würdigt Kastendiek als einen „Wegbereiter im schwierigen Feld der Kulturpolitik“.

19. Januar: Bernd Neumann ernennt Bürgermeister Thomas Röwekamp (CDU) zum neuen Kultursenator. Die Zusammenlegung von Innen- und Sport- mit dem Kulturressort lasse große Synergieeffekte erwarten, erläutert er.

14. Februar: Auf der Sitzung der Bremischen Bürgerschaft verkündet Röwekamp, dass die Kleiderkammern von Polizei und Theater mit sofortiger Wirkung zusammengelegt werden. In den Folgemonaten patrouillieren, passend zum Spielplan des Theaters, PolizistInnen in Pickelhauben, SS-Uniformen und Bobby-Mützen durch die Stadt.

27. Februar: Bernd Neumann trifft sich in Moskau mit dem russischen Kulturminister. Dabei überrascht Neumann den Amtskollegen durch die Mitteilung, er komme aus Bremen und freue sich, den ewig schwelenden Konflikt um die so genannte Baldin-Sammlung beenden zu dürfen. „Das war alles alter Kram, um den sich meine Amtsvorgänger ihren schöngeistigen Kopf zerbrochen haben“, so Neumann. Deutschland brauche jedoch „Innovation, kein hübsch bedrucktes Altpapier“ – das könne Russland „getrost behalten“.

8. März: Bernd Neumann ernennt die Bremer Kulturstaatsrätin Elisabeth Motschmann zur Sonderbeauftragten für Numismatik im Amt des Kulturstaatsministers. Die Bremer Kultur-Institutionen gratulieren begeistert zum bevorstehenden Umzug nach Berlin.

22. März: Erstmals in der Vereinsgeschichte kauft Werder Bremen einen Spieler von Bayern München zurück: Valerien Ismael. Sportdirektor Klaus Allofs überbringt das Geld per Hansekogge nach München, am Flussufer bis Hannover stehen Fans in grün-weiß und stopfen Lederhosen mit Spielgeld aus.

5. April: Die geplante Ansiedlung einer Minigolf-Anlage in Ritterhude führt zu Spannungen zwischen Bremen und seiner Nachbargemeinde. „Wir werden nicht zulassen, dass mit Tourismusmagneten kurz hinter der Landesgrenze Bremer Übernachtungsgäste abgeworben werden“, ereifert sich Bürgermeister Böhrnsen. Bausenator Eckhoff fügt hinzu, der sechsstreifige Ausbau der A27 zwischen Freihäfen-Zubringer und Bremen-Nord sei „nicht für Prestigeprojekte des Landkreises Osterholz-Scharmbeck erfolgt“.

11. April: Auf Anweisung von Kultursenator Röwekamp baut die Polizei im Bremer Theater Überwachungskameras ein.

14. Mai: Der „Weser-Report“ streut das Gerücht, Bausenator Jens Eckhoff habe Bekannte beauftragt, das Theater auf Abhörwanzen zu überprüfen. Eckhoff dementiert. Er habe bekanntermaßen keine Bekannten, die verborgene Wanzen aufspüren könnten.

18. Mai: Massive Rücktrittsforderungen nach Bekanntwerden der totalen Theater-Überwachung. Röwekamp weist die Kritik zurück: Die Maßnahme sei mit Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos) abgestimmt. Es dürfe nicht noch einmal vorkommen, dass eine Deckungslücke im Theaterhaushalt unbemerkt bleibe. Außerdem werde potentieller Drogenhandel „auch an diesem Ort“ auf diese Weise unterbunden.

20. Mai: Kulturstaatsminister Bernd Neumann greift per Telefon von Berlin aus durch und ernennt Carlo Petri zum neuen Kultursenator. Petri zeigt sich erfreut und verweist auf mögliche Synergie-Effekte mit seinem jüngsten Projekt, dem Vogelpark Walsrode.

22. Mai: In seiner Montagskolumne nimmt Peter Bauer vom „Weser-Kurier“ Röwekamp nachträglich in Schutz: In der Zeit, in der dieser das Theater videoüberwacht habe, sei dieses weder insolvent gegangen noch durch Drogenhandel aufgefallen.

7. Juli: Bei der Eröffnung des Töpfermarktes in Bremen-Vegesack verlangt Bürgermeister Thomas Röwekamp, das traditionelle Lemwerder Drachenfest nach Bremen zu verlegen. Es gebe in Bremen genügend gut erschlossene Brachen, die Stadt versuche zudem seit Jahren, sich als Luft- und Raumfahrt-Standort zu positionieren.

12. Juli: Lemwerder und der Landkreis Wesermarsch kündigen ihre Mitgliedschaft im Kommunalverbund Niedersachen-Bremen auf.

30. Juli: Kilometerlange Staus in Vegesack: Um BremerInnen an der Teilnahme am Lemwerder Spektakel zu hindern, hat Innensenator Röwekamp kurzerhand die Weserfähre von der Polizei beschlagnahmen lassen. Man könne nicht tatenlos zusehen, wie Bremer Kaufkraft ins Umland abfließe, teilt Wirtschaftssenator Kastendiek mit. Die Handelskammer applaudiert, mahnt aber eine Lösung an, bei der zumindest die Niedersachsen nach Bremen gelangen könnten. Die Vegesacker Grünen organisieren einen Shuttle-Dienst mit Ruderbooten.

23. August: Henning Scherf meldet sich von einem Segeltörn aus dem Eismeer und teilt mit, er hätte wieder Lust zu regieren. „Ich ordne hiermit Neuwahlen für den 1. Dezember an“, sagt er einem mitgereisten Radio Bremen-Mitarbeiter, der alles mit der Fernsehkamera festhält.

24. August: Sieling und Böhrnsen geben eine gemeinsame Stellungnahme heraus: Sie melden verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich Scherfs Vorgehen an. „Wenn er aber will“, lenkt Böhrnsen ein, „müssen wir schauen, ob und wie sich das umsetzen lässt“.

18. September: „Buten un binnen“ zeigt einen Beitrag mit Aufnahmen der Überwachungskamera am Rathauseingang vom frühen Morgen des 5. September. Vermummte Gestalten schleppen darin einen Kiefernholz-Tisch ins Bürgermeisterzimmer und einen rustikalen aus Eichenholz hinaus.

2. Oktober: Auf der Geburtstagsfeier zum 20-jährigen Bestehen der taz bremen verkünden taz-Geschäftsführer Kalle Ruch und taz-Chefredakteurin Bascha Mika den Zusammenschluss der taz-Lokal- und Regionalteile von Hamburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen zur taz nordwest. Dies sei die adäquate Antwort auf die wachsende Verflechtung der Gründerstaaten der Europäischen Union. Der Regisseur Fatih Akin, fügt Mika hinzu, habe sich bereit erklärt, für das neue Produkt einen Werbespot zu kreieren. Die bisherigen taz-Standorte Hamburg, Bremen und Düsseldorf würden aufgegeben, der Redaktionssitz der taz nordwest zum 1. November nach Osnabrück verlegt, teilt Ruch mit. Die Metropole zeichne sich durch ihre Nähe zur niederländischen Grenze aus. In Bremen soll täglich noch eine halbe Lokalseite erscheinen, sagt Ruch. Wenn aber wieder ein Kultursenator komme oder gehe, könne man ausnahmsweise auch mit einer ganzen Seite reagieren.

5. Oktober: In einem Interview mit der FAZ spricht Henning Scherf – „Der regierende Bürgermeister Bremens“, wie ihn die Zeitung vorstellt – über seine große Verantwortung als Regierungschef.

6. Oktober: taz-Recherchen enthüllen: Scherf hat wieder sein altes Büro im Rathaus bezogen, Böhrnsen residiert in einer Abstellkammer. Senatssprecher Klaus Schloesser versteht die Aufregung nicht. „Nun lasst ihn doch auch mal.“

10. Oktober: Bei einer Unterredung zwischen taz-Geschäftsführung, taz-Chefredaktion und Akin zeigt sich der Regisseur verblüfft vom taz-internen Arbeitstitel des geplanten Werbespots: „Gegen die Wand II.“

25. Oktober: Kulturstaatsminister Neumann eröffnet das von ihm organisierte Akkordeon-Festival in Vegesack. Redner von SPD und CDU loben seine strukturpolitische Weitsicht.

15. November: Carlo Petri erklärt völlig überraschend seinen Rücktritt als Kultursenator. Er betont, dies sei keine politische, sondern eine unternehmerische Entscheidung: Ohne langjährige Garantien des Bremer Senats ließen sich die Bremer Kulturbetriebe nicht betriebswirtschaftlich rentabel führen.

17. November: Der Koalitionsausschuss tagt, einziger Tagesordnungspunkt: Neubesetzung des Kulturressorts. Auf der anschließenden Pressekonferenz gibt Neumann bekannt, dass er Scherf zum neuen Kultursenator ernennen wird. Böhrnsen und Sieling zeigen sich erleichtert.

18. November: Die Grüne EU-Abgeordnete und Ex-Kultursenatorin Helga Trüpel kritisiert die Personalentscheidung. Die Leitung des Kulturressorts dürfe nicht zum Versorgungsposten degradiert werden. Böhrnsen kontert: Die Personal-Lösung habe schädlichen Gerüchten den Boden entzogen, wonach die Hansestadt von einem „Segelkabinett“ regiert werde.

13. Dezember: Mit den Stimmen von SPD und CDU beschließt die Baudeputation, den leeren Platz hinter dem Space Park „Henning-Scherf-Plaza“ zu nennen. Kultursenator Scherf wird eine überlebensgroße Statue in Auftrag geben.

19. Dezember: Unter dem Druck der öffentlichen Meinung beschließt der Senat, Kultursenator Scherf den Titel „Bürgermeister“ auch offiziell zuzuerkennen. Da es laut Verfassung nur zwei Bremer Bürgermeister geben darf, muss Innensenator Röwekamp verzichten.

20. Dezember: Um hämischen Presseberichten zu entfliehen, verabschiedet sich Röwekamp in den Weihnachtsurlaub nach Kambodscha. Was er nicht weiß: Die ehemalige taz-Redakteurin Eva Rhode ist schon dort ...

Armin Simon, Friederike Gräff, Eiken Bruhn, Benno Schirrmeister, Henning Bleyl