„Von dem Krempel kriegt man keinen Appetit“

Mit Hartz IV sinkt die Lebensqualität, berichten Betroffene: Beim Essen wird gespart, unvorhergesehene Ausgaben werden zum Problem. Stimmen von ALG-II-Empfängern, aufgenommen vor dem Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg

Rainer Bögershausen, 45: „Früher hatte ich Halbtagsjobs in der Gastronomie. Dann wurde das 630-Mark-Gesetz geändert. Das Verdienstlimit wurde von zehn auf acht Mark pro Stunde abgesenkt. Das hat sich dann nicht mehr gelohnt. Im Jahr 1999 habe ich Sozialhilfe beantragt, jetzt bekomme ich ALG II. Ich habe jetzt 50 Euro mehr als vorher mit der Sozialhilfe. Aber die Kaufkraft hat nachgelassen. Sachen kosten statt eine Mark oft einen Euro.“

Bernd Paulke, 49, wohnt mit Rainer Bögershausen in einer WG: „Wir sind regelmäßig am 20. eines Monats pleite. In der Kirche in der Wrangelstraße, bei den Missionsschwestern, gibt es sechs Tage in der Woche kostenloses Mittagessen. Das ist der Orden von Mutter Teresa. Am siebten Tag gibt es bei der Bürgerhilfe ein anständiges Essen für 50 Cent. Vor der Umstellung auf ALG II sind wir nicht zur Kirche gegangen, da hatten wir das nicht nötig. Vor der Umstellung gab es auch Bekleidungsgeld: 125 Euro im Sommer, 125 Euro im Winter und 125 Euro Weihnachtsgeld. Jetzt nicht mehr.“

Thomas Raitzig, 51: „Seit ALG II ist meine Lebensqualität gesunken. Ich gehe nicht mehr zum Fleischer für Wurst, sondern zu Lidl. Aber von dem Krempel kriegt man keinen Appetit. Essen ist wichtig für mich, ich habe Hepatitis. Dieses Jahr hatte ich eine Stromnachzahlung von 280 Euro. Vorher wurde das anteilsmäßig vom Sozialamt übernommen. Ich kriege 345 Euro im Monat. Die 280 Euro aufzutreiben war da schwer, ich habe vier Monate dafür gebraucht. Die Leute von der Bewag standen schon vor der Tür und wollten den Strom abstellen. Ich habe versucht, beim Jobcenter mehr Geld zu bekommen. Die haben mir den Tipp gegeben, ich solle „wirtschaftlicher handeln“. Dass gespart werden muss, ist klar. Nur ganz so grob geht es doch nicht. Trotzdem muss man letztendlich sehen: Andere Länder haben diese Leistungen gar nicht.“

Claudia Schwarz (Name geändert), 30, mit Baby: „ALG II kriege ich seit Januar, vorher habe ich in Spanien gearbeitet. Ich komme damit aus, nur manches ist blöd. Wenn jemand zu einer Bedarfsgemeinschaft dazukommt, wird dir das Alleinerziehendengeld gekürzt, dafür kommt eine Pauschale für den Vater hinzu. Der lässt sich das Geld jetzt auf sein Konto überweisen, dabei wohnt er gar nicht mehr bei uns. Ich müsste ihn eigentlich von der Wohnung abmelden, aber das will ich ungern. Viele Leute müssen sich gegen den Partner richten, um an Geld zu kommen.“PROTOKOLLE:
ANNETTE LEYSSNER