Über den Bürorand hinaus

DOKUMENTARFILM Die Dokfilmwoche in Hamburg überrascht auch im zehnten Jahr mit einem vielfältigen Programm mit dem Schwerpunkt „Arbeit“ von einer Zuckerrohrernte bis zur illegalen Arbeitsmigration

VON GASTON KIRSCHE

Bis zum 14. April laufen auf der 10. Dokfilmwoche in Hamburg insgesamt 51 Dokumentarfilme in den Kinos 3001, Metropolis, Lichtmess und B-Movie. Das kollektiv organisierte Festival öffnet jährlich fünf Tage lang einen Raum, in dem die unterschiedlichsten Dok-Filme auf großer Leinwand zu sehen sind, diskutiert werden und die Zuschauenden mit FilmemacherInnen ins Gespräch kommen können. Das Spektrum reicht hierbei von bereits auf internationalen Festivals prämierten Filmen, die mit Mitteln von TV-Sendern koproduziert wurden bis hin zu Lowest-Budget-Produktionen, die ohne jede Förderung unter zum Teil abenteuerlichen Bedingungen entstanden sind.

Aus einer Retrospektive mit 10 Filmen aus 10 Filmwochenjahrgängen, lässt sich in der Rückschau ersehen, dass die Zugänge zu und die Blickwinkel von Dok-Filmen sich keineswegs linear fortentwickeln, sondern kreatives Chaos herrscht. Gleichwohl gibt es Veränderungen von der Camcorderrevolution und der Wiederauferstehung des Dok-Filmes um die Jahrtausendwende bis hin zum professionalisierten Gebrauch von hochauflösenden digitalen HD-Kameras. Ähnlich wie durch das Internet hat sich durch die teilweise Digitalisierung des Trägermediums für Filme der Zugang zu den Techniken demokratisiert.

Quer durch alle Reihen des diesjährigen Programms geht es in vielen Filmen um Arbeit: Ihre Bedingungen, ihre Prekarität, um diejenigen, die sie ausüben, oder ausüben wollen, um von dem Lohn zu leben, und um diejenigen, die von ihr profitieren. Vieles, was auf einem privilegierten Büroarbeitsplatz sichtbar ist, materialisiert sich auf den Leinwänden der Kinos: Vom Zucker für den Espresso zwischendurch über das Elend, das in den schönen elektronischen Endgeräten von Apple steckt, die Lebensbedingungen der illegalisierten Haushaltshilfe, welche die Berufstätigkeit beider Elternteile ermöglicht, den Lungenkrebs der ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei, die ihre Gesundheit für die Gewinne einer Hamburger Asbestfabrik geopfert haben, bis hin zu Goldgräbern in der Mongolei, die ohne Arbeitsschutz das Metall aus der Erde prügeln.

Einen ruhigen Film über die schwere körperliche Arbeit der Zuckerrohrernte gibt es zu sehen: „Corta“ von Felipe Guerrero. Der Film kommt ohne jeden Dialog aus, Zu sehen ist ein Zuckerrohrfeld im Valle del Cauca im Südwesten Kolumbiens.

Drei Landarbeiter sind zu sehen, zu hören, wie sie das Zuckerrohr schlagen, dabei singen. Sie machen eine Pause im Schatten, schleifen die Macheten, und wieder los. Sie schlagen das Rohr ab, das Feld lichtet sich. Die Monotonie der Arbeit, die Weite des Feldes. Der Rhythmus der Arbeit, der Machetenschläge ist eindrücklich.

Ganz anders „Apple Stories“. Der Hamburger Regisseur Rasmus Gerlach hat hier versucht, die gesamte Wertschöpfungskette von der Förderung der Rohstoffe bis zum Apple-Store am Hamburger Jungfernstieg zu bebildern. Zwar ersetzt „Apple Stories“ keine Marx-Lektüre, aber selten war Mehrwertbildung anschaulicher im Kino zu sehen. Mit bloßen Händen werden in Zentralafrika Edelmetalle aus der Erde geholt, die in Weltmarktfabriken von Foxconn in Shenzhen von schlecht bezahlten ArbeiterInnen in iPhones eingebaut werden.

Auch in „Der Preis des Goldes“ von Sven Zellner und Chingunjav Borkhuu geht es um Bergbau ohne Arbeitsschutz. Wie in „Apple Stories“ lächeln die Goldschürfer unter Tage in ihren selbst gegrabenen, nur notdürftig gesicherten Stollen in die Kamera. Irritiert und geschmeichelt, dass sich jemand für sie, die sonst vergessen sind, interessiert. Manche tragen ein Tuch vor dem Mund – eine Staublunge werden sie unter diesen Bedingungen alle bekommen, oder Lungenkrebs. Falls sie nicht vorher in einem eingestürzten Stollen sterben.

Der Titel „Mama Illegal“ von Ed Moschitz‘ Film ist eigentlich ein Oxymoron: Welches Kind nennt schon seine Mama illegal? Aber Aurica, die in Wien ohne Papiere lebt und ohne Arbeitserlaubnis Mittelschichtswohnungen putzt, lebt weit weg von ihren Kindern, genauso wie Raia, die in Bologna für eine Richterin arbeitet und deren alte Eltern betreut: 7 Tage die Woche, nie hat sie frei, sie arbeitet, auch wenn sie krank ist. In „Mama Illegal“ wird auch die andere Seite der Grenze gezeigt: In Moldawien, wo Aurica und Raia herkommen, beträgt die Arbeitslosenquote 80 Prozent. Viele gehen deswegen nach Westeuropa zum Arbeiten. Inoffiziell, ohne Papiere. Das Klassenzimmer der Tochter von Aurica wird gezeigt: Vor der Kamera geht die Lehrerin die Reihen entlang und stellt die Kinder vor, und erwähnt, wenn ihre Eltern in Westeuropa arbeiten. Dies ist bei fast allen der Fall. Einige fangen an zu weinen, als ihre Eltern erwähnt werden. Auch Aurica und Raia weinen, als sie von ihren Kindern erzählen. Die sie nicht sehen können. Außer beim Telefonieren per Internet. Oder auf einer Videokassette. So viel Leid, das nicht sein müsste, Wenn Europas Grenzen nicht dicht wären.

Weitere Informationen im Netz unter www.dokfilmwoche.com