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GEBURT Während der Schwangerschaft kümmern sich anthroposophisch inspirierte Geburtshelferinnen ganz besonders um seelische Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung

■ Eine Übersicht über anthroposophische Geburtshilfen finden Interessierte unter www.anthromed.de/de/kliniknetzwerk oder www.anthro-kliniken.de/d.html

■ Die „Hotline Anthroposophische Medizin“, ein gemeinsames Angebot des Dachverbands für Anthroposophische Medizin in Deutschland (DAMiD), der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD) und von gesundheit aktiv, berät und informiert Mo. bis Fr. 9 bis 12 Uhr, Mo. bis Do. auch 14 bis 16 Uhr unter (0 18 03) 30 50 55. (vm)

VON VERENA MÖRATH

Wenn es einen Trend bei den Geburten gibt, dann lautet der in Deutschland schon seit Jahren: Stagnation. Nicht so in manchen anthroposophischen Geburtsabteilungen, denn sie können auf steigende Zahlen verweisen. Viele Schwangere nehmen sogar sehr lange Anfahrten in Kauf, um in den Geburtsstationen der drei großen anthroposophischen Akutkliniken in Deutschland zu entbinden: im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin, im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke in Witten-Herdecke oder in der Filderklinik bei Stuttgart. Sie entscheiden sich ganz bewusst für eine Alternative – doch warum eigentlich?

„Das mag daran liegen, dass wir immer eine natürliche Geburt unterstützen und befürworten, aber gleichzeitig alle medizinischen Möglichkeiten haben, um bei Komplikationen einzugreifen. Wir liegen mit dieser doppelten Ausrichtung zwischen einem Geburtshaus und einem normalen Krankenhaus“, erklärt Cornelia Herbstreit, leitende Ärztin der Gynäkologie und Geburtshilfe im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe. „Viele denken, dass es sich bei der anthroposophischen Medizin um eine Alternativmedizin handelt. Aber das stimmt nicht“, ergänzt die Hebamme Marion Brüssel. „Wir nutzen die ganz normale Schulmedizin und haben dabei die anthroposophische Medizin auf unserer Seite.“

Damit ist eine ganzheitliche Medizin gemeint, die nicht nur messbare Befunde berücksichtigt, sondern auch die individuelle Lebenssituation eines Menschen. Körper, Seele und Geist werden als eine Einheit verstanden. „Rudolf Steiner hat einmal gesagt, es gibt so viele Gesundheiten, wie es Menschen gibt. Auf die Geburtshilfe übertragen kann man sagen, es gibt so viele Geburten, wie es Schwangere gibt“, sagt Marion Brüssel. Keine Frau werde in eine Schablone gepresst, sondern mit ihrer Biografie, ihren Erfahrungen, Ängsten und Wünschen ernst genommen. Es werde großer Wert darauf gelegt, die Frauen zu begleiten und ihnen nichts überzustülpen. „Wir holen die Frauen immer mit ins Boot. Es wird nichts einfach gemacht“, betont die Hebamme. Es gelte, die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der Frauen zu stärken.

Genau diesen Umgang wünschen sich anscheinend immer mehr Schwangere. 300 Babys kamen im Gründungsjahr der Geburtshilfe im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe 1998 zur Welt, 2012 waren es 1.268. Nur wenige Schwangere leben in der nahen Umgebung, ein Drittel reist aus Brandenburg an, viele kommen aus den innerstädtischen Berliner Bezirken, wo es genügend und viel nähere Angebote gibt.

„Für eine Entbindung im Geburtshaus bin ich nicht mutig genug“, erzählt beispielsweise Abak Leupold aus Berlin-Mitte. „Es macht mich sicherer, dass ich hier eine PDA [Periduralanästhesie, die Red.] bekommen kann, wenn ich die Schmerzen nicht aushalte.“ Zuerst sei sie skeptisch gewesen, ob eine anthroposophische Klinik für sie das Richtige sei. „Aber alle Freunde haben unglaublich geschwärmt über ihre tollen Entbindungen hier. Dann haben uns die Besichtigung und der Infoabend auch überzeugt“, so die 38-Jährige, die mit ihrem ersten Kind schwanger ist und gemeinsam mit ihrem Mann, Andreas Leupold, gerade das einstündige und intensive Aufnahmegespräch wahrgenommen hat.

300 Babys kamen 1998 in der Klinik Havelhöhe zur Welt, 2012 waren es 1.268

„Hier glaubt man an die Kraft der Frauen und dass sie wissen, was sie selbst machen müssen“, berichtet Sabrina Kleinenhammans. Sie hat vor kurzem ihr zweites Kind hier entbunden, „Knöpfchen“. Ganz leicht hatte ihr Sohn es nicht: Unter der Geburt wurden seine Herztöne schlechter, und als er geboren war, konnte er zuerst nicht selbstständig atmen. „Selbst in dieser kritischen Situation blieben alle ruhig und besonnen“, schildert die 36-Jährige. „Knöpfchen“ erholte sich schnell und am dritten Lebenstag durfte er nach Hause. „Mich hat die gute Teamarbeit sehr beeindruckt. Ich habe mich nie alleine gelassen gefühlt, aber auch nicht entmündigt“, lobt Sabrina Kleinenhammans.

„Wir sind hier ein großes Orchester“, beschreibt Herbstreit das Miteinander auf der Station. „Alle Berufsgruppen arbeiten interprofessionell und in flachen Hierarchien auf gleicher Augenhöhe zusammen.“ Von Vorteil sei, dass die Geburtshilfe mit 23 Beleghebammen zusammenarbeitet. „So können wir sehr flexibel reagieren, wenn viel los ist oder eine Geburt problematisch verläuft“, schildert Marion Brüssel. Zwei haben immer ihren 12-Stunden-Dienst vor Ort, zwei haben Rufbereitschaft zu Hause, tagsüber hält eine Hebamme die Aufnahmegespräche ab, eine die Visite. Auch bei normalen Geburten kommt immer ein Arzt oder eine Ärztin hinzu.

Besonders spezialisiert sind die anthroposophischen Geburtshelfer auf spontane, vaginale Geburten trotz Beckenendlage, wenn also das Kind statt mit dem Kopf nach unten mit dem Kopf nach oben in der Gebärmutter liegt. Anderenorts wird den Schwangeren dann zumeist ein Kaiserschnitt empfohlen. Hier nicht, nur wenn die Geburt wirklich zu risikoreich ist. Nicht verwunderlich ist es, dass die anthroposophischen Geburtsabteilungen sehr viel niedrigere Kaiserschnittraten haben als im Bundesdurchschnitt üblich. Auch äußere Anwendungen werden angeboten, etwa rhythmische Massagen oder Einreibungen. Für viele Schwangere auch wichtig: Das Stillen wird unterstützt.