Erst Begehren, dann Verdruss

KURZGESCHICHTE Zwei Menschen treffen sich im Flugzeug. Sie sitzen nebeneinander, beginnen zu reden, kommen sich näher. Sie tauschen Blicke miteinander, sie prüfen, ob da nicht eine Art von Anziehung zwischen ihnen beiden wäre

„Das ist, wie sie zur Fellatio zu zwingen.“ „Wozu?“ Sie hatte das Wort nicht verstanden, vielleicht kannte sie es nicht. „Bier zu holen“

VON THOMAS FEIX

Sie waren beide jeder für sich. Er saß an einem Ende der Wartelounge, sie am anderen, sie bemerkten einander nicht. Beim Einsteigen war er vor ihr, es gab Zeitungen, er griff sich eine von ihnen, eine von den ernsthaften, großen, und ging zu seinem Platz durch, 21 F, Fensterplatz. Sie telefonierte beim Vorrücken auf der Gangway und blieb zurück.

Der Sonntagabendflug von Frankfurt nach Berlin war ausgebucht. Die meisten der Passagiere saßen noch nicht, sie wuchteten ihr Gepäck in die Ablage, Mantel und Jacke hinterher, dann hinein die Sitzreihe. Sie betrat als Letzte das Flugzeug, 21 E ihr Platz, Mittelplatz.

Klein war sie und biegsam, glattes brünettes halblanges Haar, schmales Gesicht. Sie hatte ein Frauenmagazin vom Stapel am Einstieg und trug es zusammen mit der Ledertasche, die farblich zu ihren braunen Absatzschuhen passte.

Nun saß auch sie, nun saßen endlich alle, es wurde ruhig unter den Passagieren, nur vorn, am Einstieg und am Cockpit, war noch Bewegung. Männer und Frauen vom Bodenpersonal standen mit Sprechfunkgeräten in den Türen. Der Kapitän meldete sich zum zweiten Mal nach der Begrüßung.

„Hier noch einmal der Kapitän“, sagte er über die Bordsprechanlage. „Wir haben ein Problem, uns fehlen vier Fluggäste.“ Die Frau auf 21 E sah auf ihre Armbanduhr, und der Mann neben ihr am Fensterplatz ließ die Zeitung sinken und sah auf seine Armbanduhr. Mittleren Alters war er, groß und dunkelhaarig.

„Die vier Koffer müssen ausgeladen werden“, sagte der Kapitän weiter, „zehn Minuten, dann können wir.“ 21 E und 21 F tauschten Blicke miteinander, zogen die Brauen hoch und die Mundwinkel herunter, der Unmut über die Verzögerung verband sie in dem Moment. Dann prüften sie mit schnellem Blick, ob da nicht vielleicht außerdem eine Art von Anziehung zwischen ihnen beiden wäre.

Sie legte das Magazin in den Schoß, sagte wie beiläufig in Richtung 21 F, dass sie für ein Pharmaunternehmen als Vertreterin tätig ist und am nächsten Morgen einen Termin in Berlin hat. Er sagte, dass das sein Anschlussflug nach Hause von Zagreb ist, eine Woche Geschäfte an der Adria. Sie bewegte sich, es war ihr anzumerken, dass sie sich nicht schlüssig war, ob sie sich auf ein näheres Gespräch mit ihm einlassen sollte. Er kam ihr zuvor, er entschied, den dünnen Faden nicht abreißen zu lassen, der sie verband.

„Vielleicht interessiert Sie der Artikel.“ Er raschelte mit den Seiten, um sie zu glätten, und hielt sie in ihre Richtung.

„Worum geht es?“ fragte sie ihn, froh darüber, dass er es ihr so leicht machte, und wandte sich ihm halb zu.

„Um einen Mann und eine Frau. Sie haben einander zufällig kennengelernt, und jetzt sind sie ein Paar.“

„So? Die beiden auf dem Foto da?“

„Sehen sie nicht glücklich aus?“

„Darf ich?“

Er reichte ihr die Doppelseite hinüber. Sie überflog die Zeilen, an einigen Stellen stoppte sie und fing zu lesen an. Nach einer Weile fragte er: „Gefällt es Ihnen?

„Ganz toll. Ich lese nun nur diese schnellen Blätter. Schön, mal wieder etwas anderes zu lesen. Früher habe ich anderes gelesen. Aber jetzt komme ich nicht mehr dazu.“ So brach es aus ihr heraus.

„Was haben Sie früher gelesen?“

„So das und das.“

„Verstehe.“

„Ja, und der Mann meiner Schwester hat sie immer dazu gezwungen, sich Kriegsbücher mit ihm zusammen anzugucken.“ Ihre Finger umschlossen die Armlehnen, die Füße hatte sie unter den Vordersitz geschoben.

„Das ist wie sie zur Fellatio zu zwingen.“

„Wozu?“ Sie hatte das Wort nicht verstanden, vielleicht kannte sie es nicht.

„Bier zu holen.“

„Nun, auf dem Sofa haben sie gesessen, er einen Arm um sie rum, so liebevoll, wie man das so macht, und sie musste die Seiten umblättern.“

„Klingt nach Mittelalter.“ Jetzt traf er ihren Ton. „Und da soll man normal bleiben. Aber das in der Zeitung da, wunderschön.“ Ihre Stimme wurde weich, ihre Aufregung legte sich.

„Es gibt viele solcher Geschichten.“ „Ich möchte mehr so was lesen.“ Sie faltete die Seiten zusammen, gab sie ihm zurück. „Manchmal mag ich nicht mehr nach Hause“, sagte sie, „mein Mann macht mich verrückt. Viel hat er nie geredet, aber jetzt, nach zwanzig Ehejahren, ist er ganz verstummt, er hockt nur noch vor der Glotze. Was mache ich bloß, ich bin doch noch ansehnlich, oder bin ich mit vierzig schon zu alt?“ Sie dehnte sich, und er sah hin. „Ich weiß“, sagte er, und er schien sich dessen nicht sicher zu sein, ob er aussprechen sollte, woran er gerade dachte. „Ich war selbst ewig verheiratet“, sagte er dann, „ich weiß, wie das ist.“ Und er erinnerte sich daran, wie er damals, als Ehemann, nachts auf seiner Hälfte des Bettes gelegen und darauf gewartet hatte, dass der Alpdruck kam, und dass er wusste, dass er deshalb kam, weil seine Frau neben ihm atmete. Sie sagte darauf, dass es immer so ist, erst Begehren, dann Verdruss, und ganz zum Schluss heißt es, du verbrauchst zu viel Toilettenpapier. Es ist ungewiss, wann genau es bei den beiden aus der Zeitung so weit sein wird, dass es aber bei ihnen genauso enden wird, ist so gut wie gewiss. Das wäre ihre Meinung.

Er hat da mal was erlebt, sagte er, und er findet, in gewisser Weise ergänzt es das, was sie eben gesagt hat. „Einmal spät in der S-Bahn saß mir eine Frau gegenüber, Ende zwanzig vielleicht. Sie hatte sich in den Winkel zwischen Bank und Fenster gedrückt, eine Schachtel auf den Knien. Machte sie auf, wieder zu, wieder auf. An der nächsten Station musste ich raus. Sie sah zu mir hoch, als ich aufstand, und streckte mir die Schachtel hin: „Hier, ich kann sie nicht mit nach Hause nehmen.“ Pralinen waren drin, handgefertigte, ein Geschenk ihres Liebhabers, wie sie sagte, und ich bemerkte nun erst ihren Ehering. „Warten Sie“, sagte sie noch, bevor ich mit der Schachtel weg war, „eine wenigstens“. Dann drückte sie sich wieder in den Winkel, Blick nach unten, eine von den Pralinen im Mund.“ „Was haben Sie mit den Pralinen gemacht?“, fragte sie ihn. „Gegessen, auf dem Weg nach Hause noch.“ Die Frage erstaunte ihn, doch fing er sich gleich wieder. „Alle?“ „Die ganze Schachtel.“ Er nickte. „Ich wollte das irgendwie erledigen. Wegwerfen ging nicht, es war ein Geschenk. Aber ich wollte sie auch nicht bei mir in der Wohnung haben, nicht eine Sekunde lang.“ Sie seufzte, und es hörte sich an, als hätte das Wort „Männer“ den Seufzer bestimmt. „Was hätten Sie in der Situation an meiner Stelle getan?“, fragte er. „Einer Frau hätte sie die Pralinen gar nicht angeboten. In solchen Fällen vertrauen sich Frauen eher Männern an. Aber da Sie fragen, nein, die Schachtel hätte ich sicherlich nicht angenommen.“

Das Anschnallzeichen kam, die Türen wurden geschlossen, die Maschine ruckte an. Rückwärts rollte sie in Richtung Startbahn vom Terminal weg. „Hier wieder der Kapitän“, erklang die Stimme des Kapitäns, „wir sind so weit, und die zehn Minuten holen wir wieder herein. Angenehmen Flug.“ Einige der Passagiere klatschten, und die Piloten fuhren die Turbinen hoch. Die beiden auf 21 E und 21 F tasteten nach den Gurten. „Sie hätten die Pralinen nicht angenommen?“, fragte er sie. „Ich weiß nicht einmal, ob ich ihr den Liebhaber gegönnt hätte.“ Sie ließ das Gurtschloss zuschnappen. „Ich hatte eine Kollegin“, sagte er, „lange her. ‚Sie‘, sagte sie immer, ‚Sie brauchen Pflege‘, und ich sagte, ‚ach? Weibliche Pflege? Meinen Sie das?‘ Sie war wie ich verheiratet.“ Er wurde lauter, nahm die Umgebung nicht mehr wahr.

Auch sie war in das vertieft, was er sagte. „Und?“, fragte sie ihn, sie hatte sich ihm fast vollständig zugewandt. „Nichts, wir mochten uns einfach so. Es hat ihr und mir gut getan, es war etwas, das wir in unseren Ehen nicht mehr hatten.“ Sie hob beifällig die Hand. „Haben Sie jetzt jemanden?“, fragte sie ihn dann und schlug das Magazin im Schoß auf. „Seit der Scheidung bin ich solo“; sagte er, und sie tat, als hätte sie nicht hingehört. Sie schwiegen lange, und nach der Landung stiegen sie gemeinsam aus, im Shuttle-Bus standen sie beieinander, am Gepäckband redeten und lachten sie weiter, und als sie hinaus zum Taxistand gingen, stießen sie einander gegenseitig an.