MEIN FREUND, DER BAUM
: Unsichtbare Stacheln

Langsam wird das Zusammenleben unheimlich

Es gibt etwas in meinem Leben, das länger Bestand hat als jede Beziehung zu einem Mann. Ich meine kein Buch, keinen Schmuck und auch kein Möbelstück, sondern eine Pflanze. Genau gesagt handelt es sich um einen Baum. Ich kaufte ihn vor etwa zwölf Jahren in Neukölln. Die Verkäuferin konnte mir nicht sagen, um was für ein Gewächs es sich handelt. Das Bäumchen war etwa einen halben Meter groß und kostete nicht viel. Als ich vor zehn Jahren nach Friedrichshain zog, nahm ich es mit. Den Mann, mit dem ich dort gewohnt hatte, ließ ich zurück.

Der Umzug fand im Winter statt, und nachdem das Bäumchen wenige Minuten in der Kälte gestanden hatte, verlor es alle Blätter. Ich stellte es ins sonnige Schlafzimmer, schnitt die kahlen Äste zurück, strich regelmäßig über die nackten Aststummel und sprach aufmunternde Worte. Mittlerweile ist aus dem Bäumchen ein stattlicher Baum geworden, der mich weit überragt. Die Blätter sind von saftigem dunklem Grün und handtellergroß. Die Blüten sind winzig klein und von unschuldigem Weiß. Im vergangenen Jahr musste ich den Baum stutzen, damit er nicht durch die Zimmerdecke wächst.

Doch langsam wird das Zusammenleben unheimlich. Neulich wollte ich im Vorbeigehen ein welkes Blatt entfernen. Meine Hand erwischte den Stil, und als hätte der Baum unsichtbare Stacheln, pikste mich etwas. Erschrocken zog ich die Hand zurück. Nach einigen Minuten griff ich beherzt nach dem welken Blatt, und wieder bohrten sich unsichtbare Stachel in mein Fleisch. Wie in Zeitlupe fiel das welke Blatt auf den Boden, während meine Hand juckte wie Sau und sich die Haut rot färbte. Respektvoll und etwas ängstlich umkreiste ich den Baum, von dem ich bis heute nicht weiß, was er für einer ist, und dacht wehmütig an die Zeit zurück, als er sich seine nackten Äste streicheln ließ. BARBARA BOLLWAHN