Zeit lässt die Feigen reifen

Auf Abwegen über Gozo wandern, Maltas kleine wilde Schwester: Bei mildem Klima haarscharfan den Klippen entlang, über Mauern, lehmige Abhänge und steile Pfade abseits der Wanderwege

Sicheren Schrittes bringtdie blonde junge Frau ihre Gäste auch dort weiter, wo die Pfade plötzlich enden

Von KORNELIA STINN

„Wenn es geregnet hat, blüht es auf all den kargen sommertrockenen Böden zwischen den Steinmäuerchen. Plötzlich wird alles grün, und die Blumen sprießen. Das ist unser Winter“, erklärt Vanessa Grech. „Da kommt es vor, dass man am Neujahrstag im Bikini am Strand liegt. Denn der Regen, der dauert manchmal nur ein paar Minuten.“ Stolz ist sie auf ihre selbst gewählte Heimat. Zeigt mit weitschweifender Bewegung von der Felsnase am Wardija Point aus über die Dweijra Bay bis hinüber zum Azure Window, dem brüchigen Felsentor über dem tiefblauen, dem unglaublich blauen Wasser.

Vanessa Grech kennt alle Wege auf Gozo. Die junge Deutsche zog vor 14 Jahren auf die Mittelmeerinsel Malta. Sie legte an der Uni eine Prüfung als Fremdenführerin ab. Später heiratete sie einen Gozitaner und zog mit ihm auf seine Heimatinsel. Gozo ist die kleine Schwester Maltas, zu Füßen Siziliens. Ghawdex wird sie von den Maltesern genannt – die Insel des Glücks. „Iz-znien isasro l-batar“ – die Zeit lässt die Feigen reifen – sagen die Menschen hier und haben keine Eile. Wenn die Hitze des Sommers abklingt, wird es ruhiger. Noch ruhiger. Dann kommen die Wanderer hierher. Und die führt Vanessa entlang den Felsenküsten und durch Orte, die aussehen wie aus einem Märchen von Tausendundeiner Nacht.

Auf honiggelbem Sandstein tobt sich orientalische Ornamentfreudigkeit aus. Vor allem die Galerias, die Erker aus Holz, die mit ihren niedlichen kleinen Fensterscheiben ein Andenken an die Herrschaft der Araber sind, können nicht genug davon bekommen. In Dörfern wie Gharp oder San Lawrenz scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Der Bäcker backt das Brot noch wie vor hundert Jahren im Holzofen. Glasbläser geben ihren Vasen Farben, die mit denen des Meeres wetteifern. Trutzburgen beinahe wie aus der Wüste gestampft sind all diese Orte im Sommer, im Winter schwelgen sie in einem Meer von Grün.

Direkt bei den Häusern gehen die Blumen das ganze Jahr über nicht aus. Riesige Oleander oder Bougainvilléen winden ihre Blütenpracht bis über die Dächer und Kaktushecken werfen ihre Feigen gern im leichten Wind am Nachmittag ab. „Da muss man aufpassen“, sagt Vanessa, „an den langen Stacheln kann man sich ganz bös verletzen!“

Vanessa wohnt mit ihrer Familie in einem Farmhouse. Das haben sie gekauft und renoviert. Ein Schmuckstück, so wie viele Farmhäuser hier. Die bis zu dreihundert Jahre alten aufgemöbelten Bauerhäuser sind geradezu eine Spezialität auf dieser Insel. Viele von ihnen kann man als komfortables Urlaubsdomizil mieten. Mit oder ohne Swimmingpool, von schlicht bis gediegen – je nach Geldbeutel.

Die steinernen Dörfer, deren Häuser sich dicht aneinander drängen, und ihre gewaltigen Kirchenkuppen, die zu den größten freistehenden der Welt zählen – man sieht sie von weitem. Auch von jenem Weg aus, den Vanessa ihre Gäste gerade entlang der Klippen führt. Felszungen ragen ins Wasser hinein. Ein luftig-leichter Wind vom Meer erfrischt jeden Quadratzentimeter Haut. Das beflügelt.

Sicheren Schrittes bringt die blonde junge Frau ihre Gäste auch dort weiter, wo die Pfade plötzlich enden. Hier schwingt sie sich geübt über Steinmäuerchen, dort kraxelt sie auf den lehmig-felsigen Abhang, weil nun unten wieder ein Pfad beginnt, der sich haarscharf an den Klippen entlangschlängelt. Wer weiß, wo der mal wieder enden wird. Man könnte ja auch die bewährten Wanderwege gehen. Aber markiert sind auch die nicht. Zudem wenden sich diese zu oft landeinwärts. Ein Hauch von Abenteuer ist es eben, will man dem Meer so nah wie möglich bleiben.

In der Ferne taucht bald Fessej Rock auf, der Vogelfelsen im Meer. Da können die Vogelfänger nicht hin, die hier an der Küste ihre Fangsteine mit Drahtkonstruktionen präparieren. Malerisch liegt im Hintergrund Ta’Pinu, die Kirche mit dem frei stehenden Turm, die zum Nationalheiligtum erhoben wurde. Auf dem Hügel dahinter zeigt ein Leuchtturm die Nähe zur Küste auf der anderen Seite.

Nur etwa sieben Kilometer misst Gozo an seiner breitesten Stelle. Und dann sieht man von weitem schon Viktoria, das mal Rabat hieß. Die Zitadelle, in deren Mauern sich die Gozitaner im 17. Jahrhundert aus Angst vor türkischen Überfällen verbargen. Unübersehbar sind auch die vielen mysteriösen Steinarrangements längs des Kliffweges, die etwa auf vorgeschichtliche Mauerreste hindeuten. Oder die terrassenförmigen Mäuerchen, mit denen die Bewohner ihren landwirtschaftlichen Besitz eingrenzen. Zitronen und Apfelsinen gedeihen hier neben Oliven, Feigen, Eukalyptus und Johannisbrot.

Der Weg hinunter nach Xlendi ist ziemlich steil. Gewaltige Felsplatten bauen sich untereinander auf. Und eigentlich ist es auch kein Weg. Aber die Badebucht, die ganz unten in einem schmalen Felseinschnitt liegt, lockt. „Vorsicht“, warnt Vanessa und nimmt selbst die ein oder andere Passage auf dem Hosenboden. So ist das nun mal, wenn man den „Einstieg“ zu dem schmalen Pfad verpasst, der von unten besser zu erkennen ist. Irgendwann kommt eine Treppe. Steil, aber wenigstens begehbar.

Und dort, wo die kleine Badebucht beginnt, sitzt eine alte Frau vor ihrer Haustür. Um eine feste Stoffrolle arbeitet sie mit Fäden, an denen Hölzer hängen, an einem Spitzenmuster. Flott schlingt sie die Fäden umeinander und über Stecknadeln. In einem kleinen Kistchen hat sie Spitzendeckchen liegen, Ergebnisse ihres Schaffens.

Ob wir etwas kaufen wollen, fragt sie ohne aufzuschauen. In Gozo wird das Klöppeln noch in sehr vielen Familien gepflegt. Und eine Bucht wie die im touristischen Xlendi ist kein schlechter Ort für den Verkauf. So ein leichtes Mitbringsel passt noch in jeden Wanderrucksack hinein. Die Insel dankt es, wenn man ihr genügend Zeit widmet. Denn die Zeit lässt nicht nur die Feigen reifen auf Gozo.