Der Kinderbieger

Der 54-jährige Hans-Peter Ganter lebt auf einem Einödhof in Lappland. Dort beherbergt er kriminell gewordene Kinder, denen in Deutschland Jugendhaft droht und die von ihren Eltern aufgegeben wurden. Wie einst er selbst. Ganters Gefängnis ist der endlose Wald ringsum. Die Strafe: Ein Jahr lang dort leben. Ohne Menschen

Von THOMAS BRUNNSTEINER

Kenny geht.

Ich war fünf Jahre, ich war ein kleiner Junge, da gab mich die Mutter fort.

Vor zwei Nächten haben sie Kenny abgeholt. Fortgebracht von daheim, weit fort, ans Ende der Welt. Alles sieht hier gleich aus in Kennys Augen, menschenleer, öde. Nur ein lichter dünner Wald umgibt ihn seit der Fahrt hierher, stundenlanger Wald. Kenny war noch nie so allein. Zwei Tage hat er nur an Flucht gedacht, fort von diesem Tyrannen, fort aus diesem gottverlassenen Haus. Am dritten Tag hält er es nicht mehr aus. Er schleicht sich aus dem Zimmer, er rennt davon über die moosige Erde zwischen den Bäumen, auf die Straße. Nur fort!

Ich war fünf, da hatten sich meine Eltern getrennt. Ich ging in die Heime, ich musste. Dann fand wer eine Pflegefamilie: Auf einen Hof in der Mitte des Waldes gaben sie mich. Pflege, nein, viel Pflege nicht, aber Familie. Alles unter einem Dach. Bei Waldbauern bin ich groß geworden. Drogen, Kriminalität, Davonlaufen, davon gab es nix. Da hat man den Frack vollgekriegt, wenn was war.

Ein Jahr in diesem Loch? Die spinnen! Kenny geht. Nur es kommt kein Asphalt. Eine Stunde, und nichts als diese versiffte Schotterpiste, schnurgerade läuft sie zwischen niedrigen Fichten, über sumpfige Wiesen, alles sieht so wahnsinnig gleich aus. Straßen, auf denen kein Schwein fährt, an denen niemand wohnt. Kenny geht weiter, durstig ist er jetzt, hat Blasen an den Füßen. Beschissener Schotter in den Schuhen. Dann ein Hof. Es ist alles offen, es ist keiner da, es gibt keinen Zaun, am Schuppen ein Rad. Ein Fahrrad. Kenny fährt jetzt. Es wird was kommen.

Zu mittags waren zehn Leute am Tisch. Wir haben alles getan, da war Vieh und Pferde und alles, und alle aßen am gleichen Tisch zu Mittag. Wenn da einer Scheiße gebaut hat, kriegte er von der restlichen Sippe eins auf die Ohren. Das war eben die Hierarchie, die hat noch gestimmt. Der Altbauer, da war der 78 Jahre alt, der hat vor aller Augen seinen Sohn flottgemacht. Weil der die Pferde drangsaliert hatte. Das kannste dir nich mehr vorstellen. Aber wenn von außen was kam – die Familie: ein Block.

Vier Stunden. Oder sechs, es kommt kein Asphalt, und der Alte ist sicher schon hinter ihm her, Kenny will rennen, die Beine versagen ihm. Er hat jetzt höllischen Durst, und es ist überhaupt gar nicht wahr! Dieses Kaff, nur Scheißwald, und kein Straßenschild, kein Auto, kein Ort. Nur da … ein Bauernhaus. Kenny geht hinein. Offene Türen, da sitzt einer und rührt sich nicht. Er fragt um Wasser und gestikuliert ein bisschen, wie schwer kann das schon zu verstehen sein. Kriegt ein Glas, er soll sich doch hinsetzen, und Kenny setzt sich und trinkt zwei Gläser leer, und dann legt er sich nur ein wenig nieder. Nur einen kurzen Augenblick, weil er weiter muss. Weil er heim muss. Und dann schläft er ein. Sieht jetzt aus wie ein deutscher Junge von dreizehn Jahren, der schläft. Einer deckt ihn zu. Und geht zum Telefon, redet bald, ganz leise …

Der Kenny!? Ja, der is nach dem zweiten Tag abgehauen, und da hat er ungefähr 30 Kilometer geschafft gehabt, und unterwegs noch ein Rad gestohlen. Dabei hat er die falsche Richtung gehabt, der wär in Russland rausgekommen. Dann is er zu einem Bauern, hat ein Glas Wasser gekriegt, dort isser dann eingeschlafen, am Platz. Die haben mich angerufen, ich soll ihn abholen. Dann hab ich ihm die Schuhe abgenommen, alle. Weil barfuß hätt der sich die Sohlen blutig geschunden, waren ja drei Kilometer Schotterweg ab vom Haus, in die richtige Richtung also. Ist er dann drei Tage auf Strümpfen rumgelaufen. Dann sag ich: Wenn du mir versprichst … Er gab mir dann die Hand drauf. Ein Jahr lang blieb der bei mir. Nee, fortgelaufen is der nich mehr.

Marrasjärvi, ein Bild von Lappland. Vor den samtig grünen Rücken, auf dem silbrigen See treibt fern ein einzelnes Langboot, darin die Schatten zweier Fischer. Sanft steigt die moosige Wiese herauf zu alten, stierblutroten Höfen, manche der Häuser sind hundert Sommer alt, älter. Es ist August, die Sonne geht jetzt auch zur Nacht nicht unter. Nach Rovaniemi, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Finnlands, sind es etwa siebzig Kilometer. Die Türen der Häuser sind unversperrt, ich trete in ein Wohnzimmer ein, ein alter Mann sitzt im Schaukelstuhl. Ziemlich allein wohne er hier, sagt er, sieht wieder durchs Fenster. Und ja, er kennt die Deutschen. Er konnte gerade gehen, als man das Dorf evakuiert hat, hinüber nach Schweden, 1945, im Lapplandkrieg. Sein Dorf hat die Wehrmacht nicht so arg mitgenommen, nur zwei Häuser abgefackelt und die Brücke gesprengt hätten sie hier, sagt er. Ja, und jetzt hat es wieder einen. Aber von dem wisse man nicht viel, man sieht ihn nie, der ist vielleicht zwei Jahre hier und wohnt am Ende einer Straße, die in den Wald führt. Der Alte beschreibt mir den Weg und das Haus des Deutschen. Aber ich kenne es schon. Ich war ja dort. Nur war keiner da.

Hans-Peter Ganter lebt in Marrasjärvi. Er hatte sich Erlebnispädagoge genannt, am Telefon, und kurz erzählt, worum es dabei geht. Um Jugendliche, die rechtlich Kinder heißen und straffällig geworden sind in Deutschland. Wo dann die tranige Maschinerie einsetzt. Von den Lehrern zu den Eltern, die ihre Kinder längst schon aufgegeben haben. Zurück zur Schule, zum Sozialamt, ein paar Mal auch zur Polizei oder Entzug und Psychiatrie. Dann vor den Jugendrichter. Schreien, Schlagen und Missbrauchen. Erst geschieht es ihnen, dann tun sie es mit anderen. Jetzt könne man sie mit ihresgleichen einsitzen lassen. Oder zu Leuten schicken wie ihm. Er erzählt von Kenny, dessen Fluchtversuch, den abgenommenen Schuhen. Und jetzt sei wieder ein Jugendlicher da, auf ein Jahr. Erfolgsquote über siebzig Prozent. Resozialisieren mit Survivaltraining und Eins-zu-eins-Betreuung. Das klingt nicht einfach, aber gut. Wir vereinbaren ein Treffen. Als ich komme, liegt das Haus verlassen.

Da ist die Kette vor der Einfahrt, der Rasen ist gepflegt wie das ganze Anwesen, ein Einfamilienhaus mit Garage und Stallungen, ein adrettes Grillhäuschen, nur im Wald querab ein abenteuerlich zusammengezimmertes Baumhaus. Ich zähle fünf Vorhangschlösser, rüttle an drei versperrten Türen. Die halb volle Futterschale auf der Veranda deute ich bald als Zeichen eines hastigen Aufbruchs, der Hund musste wohl mit.

Die Windorgel über dem Eingang schlägt plötzlich an, erschreckt mich, sonst ist es ganz still. Überhaupt wirkt der Hof ängstlich, wie sorgfältig und reinlich abgeschirmt vom umgebenden Wald und der Straße in einem Landstrich, in dem man sonst die Natur gewähren lässt wie die Menschen, wo jeder Besucher durch offene Türen in die Häuser treten soll. Nach eineinhalb Stunden gebe ich auf. Ganter und sein Schützling sind nicht hier. Oder haben sich auf Anleitung des Meisters im Forst verschanzt, mich beobachtend, auf eine längere Belagerung eingestellt. Lappenkoller – so nennen die Nordländer tatsächlich jene Umgangsangst, die sich beim Stadtmenschen einstellt, wenn er nur lange genug mit sich alleine war. Ich ziehe ab. Fahre ins Dorf zurück. Gehe ins Haus des alten Mannes, der mir Kaffee anbietet. Trinke. Das Telefon klingelt. Hans-Peter Ganter. „Entschuldigung, nicht … Ich hab jetzt Feuer gemacht. Zum Grillen. Können Sie noch mal zurückkommen?“ Noch mal? Ja.

Neue Ankunft, die Kette fehlt. Aus dem aufgesperrten Grillhäuschen tönt Marschmusik, über Birkenscheiten tanzen Flammen. Auf dem Gartentisch ein dicker Folder, in fetten Lettern „Finnland“ und „Projekt“. Ein ganz junger Hund umtollt meine Beine. Hans-Peter Ganter bringt von hinten Most in einem Krug. Er ist kurz im Wuchs, aber nicht klein, trägt ein T-Shirt und eine Armyhose in Camouflage. Kleine, klare Augen tief im Gesicht, und die graugrünen Haare sind über die Ohren ausgewachsen, dick wie der Schnurrbart. Er strahlt Autorität aus, die eines mongolischen Kriegsmarschalls vielleicht, nicht durch seine Statur, aber durch die Schlachten, die er gefochten und zumeist verloren hat. Wir nehmen draußen Platz. Im Haus sei es nicht sehr gastlich, sagt Hans-Peter Ganter. Der Welpe habe während ihrer Abwesenheit alle Teppiche vollgeschissen. Hatte wohl Angst. Sein Jugendlicher sei noch am Reinemachen. Hundekacke wegmachen statt Survivaltraining.

Seit wann ist er in Finnland? „Ja, 2000. War schon 1999 hier, zum Erkunden. Platz gesucht, wo ich wirken kann.“ Warum Lappland? „Es geht um die Fluchtmöglichkeiten der Jugendlichen, die ich betreue. Von hier heim nach Deutschland sind das dreitausend Kilometer. A long way back. Ich war vorher ein Jahr in Kanada, auch allein. Wollte testen, wie ich reagiere, wenn ich allein bin. Weil … ich unterscheide ja Alleinsein und Einsamkeit. Alleinsein, das wählt sich jeder selbst.“

Die Egerländer brausen auf, machen einen Tusch. „Aber Einsamkeit ist depressiv, Einsamkeit ist tödlich.“ Und noch ein Tusch. Er redet sich ein. Erzählt, wie er jenes Land geliebt hat, die Weite in British Columbia am Yukon. Und seinen ersten Jugendlichen dorthin mitnahm. Aus der Psychiatrie in München habe er den damals geholt, einen gerade fünfzehn Jahre alten Junkie, der vom Gymnasium abgestürzt war, ganz hinunter auf die Straße, wie Ganter sagt. Mit dem ist er dann 24 Stunden später „in den Rockys gestanden“, mit tausend Kilometern rundherum nix. „Für den natürlich schon ein Schock, gell?“ Auf den Cold Turkey folgt Totalverweigerung. Der Jugendliche will partout nicht Holzspalten. Es ist nicht warm. Ganter schläft in einem Luftwaffenschlafsack, in dem einer bei minus 60 Grad noch nicht stirbt. Sein Schützling nicht. Am nächsten Tag hackt der Junge Holz, viel Holz. Ganter: „Je extremer das Klima, umso mehr regelt sich von selbst.“

Aber nicht alles. Kanada mochte den Neuankömmling Ganter nicht haben. Ein Beamter der Einwanderungsbehörde hat ihm seinen Plan, dort zu arbeiten, für immer vereitelt. Sagt er. „Na, der hatte den Davidstern auf’m Tisch. ‚Sie sind Deutscher, ich bin Jude. Was wollen Sie von mir?‘, sagt der. Da war’s gelaufen.“ Ganter darf nicht in Kanada bleiben. Und sucht nach einem Standort für sein Projekt, das sich langsam bezahlt macht. Denn jeder Jugendliche, der ein Jahr bei ihm übersteht, ist auch Einkunftsquelle für einen Mann, der zuvor vieles unternommen hat, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Um sein Leben zu bestreiten.

Den Boden unter den Füßen weggezogen haben sie ihm das erste Mal, da war er fünf. Im Jahr 1955 holten ihn Waldbauern zu sich auf den Hof, aus dem Kinderheim. Er schlägt eine dicke Mappe auf, ich sehe ein vergilbtes Bild: Ein Herr aus der Kaiserzeit, mit feinem Haar, Nickelbrille und gestutztem Schnurrbart, wie Thomas Mann beim Besenbinden sieht er aus. Nur die Hände sind grob. „Der Altbauer Heinrich war ein strenger, aber fairer und gerechter Lehrmeister“ hat Ganter dazugeschrieben. Und dann noch ein Bild vom Jungbauer Willi, der aus Hans-Peter „einen ordentlichen Landwirt und noch vieles mehr“ machen wollte. „Des is mir anhänge gebliebe“, sagt Ganter. Bevor ihm die Augen weich werden, nippt er schnell am Most.

Mit vierzehn hat er plötzlich wieder eine Mutter. Sie hat geheiratet, holt ihn weg vom Hof. Er lernt Werkzeugmacher, kommt mit dem neuen Stiefvater immer wieder über Kreuz. Entkommt endlich als Freiwilliger zur Bundeswehr, nach Niederbayern, wo er als Heidelberger oft gegen ein abfälliges „Zuagroaster“ rennt. „Das war schwerer als nach Finnland zu kommen“, sagt er. Deswegen steigt er auf. Das Gehorchen macht Sinn und später das Befehlen, die Dinge kommen wieder ins Lot. Lange Zeit bringt er Piloten bei, wie sie hinter feindlichen Linien überleben, wenn ihr Flugzeug nicht mehr fliegt. Überlebenstraining, und dass man irgendwann abspringen muss. Ganter verlässt die Bundeswehr 1981. Geht als Leibwächter und Sicherheitsberater zu einem US-Konzern, wieder zehn Jahre. Wird arbeitslos, schlägt sich als Holzknecht durch mit dem Motto „Problemfällungen in extremer Lage“. Irgendwann dazwischen war er auch einmal richtig reich, Firmenbesitzer, Unternehmer. „Ich war schon Millionär“, sagt Ganter. Eine Galvanik hat er besessen, mit zwanzig Mitarbeitern hat er Schrauben verchromt für alle möglichen Automobilmarken. Doch eine EU-Umweltauflage bricht dem Unternehmen das Genick. Er verschleppt den Konkurs noch ein wenig, hat am Ende gar nichts mehr. „Hab ich meinen Mercedes abgegeben“, sagt er. „Na ja, das war’s dann halt. Schlussstrich.“

Immer Schlussstrich, auch in den Beziehungen. Im Folder blättere ich weiter, zur Rubrik „Meine Familie“. Da stellt Ganter seine Frau Alida und Sohn Axel vor, in Bild und wonniger Kurzbiografie. Das Leben steht auf einem anderen Blatt. „Ich hab einen Adoptivsohn – adoptiert, als er fünf war –, der ist jetzt 22, studiert Informatik. Der raucht net, sauft net, und keine Probleme mit der Polizei … Ach, der hat nur einmal ein paar CDs geklaut.“ Ein Leumundszeugnis wie für einen seiner Schützlinge. Ob ihn der Sohn hier schon besucht hat? „Näh, der kommt mir net her.“ Dann kurze, betretene Pause, als suche er nach einer Erklärung, doch es kommt nichts. „Näh …“ Und die Frau? „Ich brauch a neue. Bin ja offiziell geschieden, seit 14 Tagen.“ Alleinsein, hat er gesagt, das wählt sich jeder selbst.

Hinter meinem Rücken ist Dennis aus dem Haus getreten, er grüßt scheu, als er bemerkt wird, und schlendert in Richtung Feuerstelle, eine Art Hamburger mampfend. Er überragt Ganter an Größe und wirkt dabei wie ein unbedarfter, netter Mittelschüler, wie auf Stippvisite hier im hohen Norden. Ein weißes T-Shirt trägt er und eine feine Goldrandbrille, die kurzen blonden Haare frisch gestylt. Überhaupt sehr angenehm, wie er sich zu uns setzt. Höflich, interessiert mithört. Dann redet.

Dennis ist seit März auf dem Hof von Hans-Peter Ganter. Rauchen darf er hier in Maßen, sagt er. Aber Bier oder den Most rührt er sowieso nicht an. „Weil mein richtiger Vater is ja gestorben, an Alkoholvergiftung und so. Und deswegen.“ Ob er aus einer großen Stadt kommt, frage ich ihn, als Ganter uns für einige Minuten alleine lässt. „Es geht. Heilbronn.“ Langweilig sei es hier gleich gewesen, meint er. In der Stadt dagegen „war halt immer was los“. Wie groß Heilbronn denn sei, will ich wissen. Hat es tausend oder zehntausend Einwohner, nur ein paar hundert vielleicht? „Weiß ich doch nicht …, so dreißig… Ach, so wie Karlsruhe.“ Ob er vorher schon einmal im Ausland war, frage ich. „Nee. Außer einmal, eine Woche Ferien. Wir waren im Schwarzwald damals.“ Er hat Kontakt mit den Eltern, sagt er, und schreibt Briefe. Besuche seien eigentlich nicht vorgesehen, die Eltern könnten aber jederzeit kommen. „Wenn die das selber zahlen“, sagt er. Seine leise Antwort klingt abgeklärt, als würde er sagen: Die Kosten als konveniente Ausrede. Da kommt keiner.

Ein Buch – sein erstes Buch – hat er zu lesen begonnen. Einen Ken-Follet-Krimi, „da kann man sich voll viel vorstellen“. Ansonsten liest er Schulstoff und lernt, sagt Dennis. Eine Fernschule schicke ihm die Unterlagen hierher. Im März nächsten Jahres, wenn er heimkommt, soll er mit seinen ehemaligen Klassenkameraden den Hauptschulabschluss schaffen. Frisör will er dann werden, sagt er, jetzt macht auch sein vorbildlich gepflegtes Haupthaar Sinn. Den ursprünglichen Traum, Polizist zu werden, hat er sich verbaut. „Ja, ich weiß.“ Erzähl mir bitte, was hast du gemacht? Gestohlen oder was? „Nein, öh … Ja. Auch. Voll viel Einbruch und so. Und Körperverletzung.“ Das letzte Wort verschluckt er fast. Statt Freunde oder Kumpels sagt er immer Mittäter. Manche wurden aufgegriffen, manche gingen ins Heim, manche verrieten den Rest. Aber alle haben sich über sein Fortgehen „voll viel aufgeregt. Weil ich ja weg musste“. Wer hat gesagt, er müsse weg? „Gericht. Bewährung hab ich.“ Als Alternative zum Fortgehen haben sie ihm, dem Vierzehnjährigen, nur Knast anbieten können: Ein Jahr und drei Monate.

Wie er denn in den ganzen Schlamassel hineingeraten ist, möchte ich noch wissen. Ob er sie jetzt womöglich klarer sieht, die Grenze zwischen Unfug und Verbrechen, die er damals überschritten hat. Für Dennis liegt die Sache ganz klar: „Die Polizei hat uns eines abends angehalten. Meine Mittäter hielten alle dicht, aber zwei: die haben sie weich gekriegt. Die haben uns verpfiffen.“ Mein Heischen nach reuiger Selbstreflexion war völlig unangebracht. Dann will mich Dennis auch noch etwas fragen: „Wie lange hat’s bei dir gebraucht, bis deine Haare so lang waren?“ Ich habe keine Ahnung. Manche Dinge fragt man sich selber nie.

Die Egerländer haben ausgespielt. Langsam wird es kühl auf dem Hof. Der nahe Abend eines lauen Augusttages hat in Lappland noch das Licht des Sommers, das dünne, nicht enden wollende, doch die Luft ist schon leicht wie an einem Herbsttag. Ein Vorgeschmack von Winter, der lichtlosen Zeit, die den Menschen in Lappland die Schwermut ins Gemüt drückt. Und den Junggesellen eine Flasche Schnaps in die Hand.

Wir sitzen ums Feuer, Ganter kommt zurück. Im Endeffekt könne man diese Jugendlichen doch nicht verantwortlich machen, sagt er. In erster Linie das Elternhaus, dann die Schule, und schließlich versagte an ihnen auch der Staat. Ob er sich mit seiner Erlebnispädagogik nicht ein wenig im rechtsfreien Raum bewegt, will ich wissen. „Na ja, Vorschriften gibt’s eigentlich net. Das wird individuell gemacht.“ In der Regel sind es Vierzehn- bis Sechzehnjährige, die zu ihm kommen. „Aber jüngere … das ginge auch. Wär mir lieber. Junge Bäume kann man biege.“ Und das am ehesten im Norden. Der Süden wäre für ihn nie in Frage gekommen. In Griechenland, das würde schon nicht gern gesehen: In einem angenehmen Klima die Zeit verbringen. „Wie Urlaub, wie Wasser in den Rhein tragen“, sagt Ganter. In Griechenland habe ein Jugendlicher in einem ähnlichen Projekt seinen Betreuer ermordet – Dennis zuckt nicht mit der Wimper –, und das hätte viel schlechte Publizität gebracht. Denn obwohl die Erfolgsquote dieser Resozialisierungsprojekte bei 75 Prozent liegt, wie Ganter behauptet, wollte die CDU diesen Zweig der Jugendarbeit ganz abschaffen.

Ich schnappe den Hund, der meinen Schuhen jetzt gröbere Wunden beibringt, an der Genickfalte, hieve ihn fort. Der Welpe jault und winselt erbärmlich. Dennis sieht vorwurfsvoll erst mich an, dann sucht sein Blick den Mentor. Der kommt gerade in Fahrt: „Von meinen acht Stück war noch keiner im Knast, also anschließend meine ich. Vorher schon, du zum Beispiel!“ Dabei sieht er Dennis an, der jetzt nicht ganz weiß, ob mit einem stolzen oder beschämten Ausdruck gerechnet wird. „Man zieht sie halt aus’m Verkehr, geht ein Jahr in die Wildnis.“ Es gebe auch im Ural Projekte, sagt Ganter. Einen gewissen Reiz habe das noch auf ihn. Doch eigentlich genieße er auf diesem Hof in Marrasjärvi ja alle Annehmlichkeiten: Sauna, fließendes Wasser heiß und kalt, eine Waschmaschine und elektrische Heizkörper. „Mit Survival hat das ja wenig zu tun“, gibt er zu. „Aber irgendwann werd ich müd, es kotzt mich dann an.“ Das Überleben also. Jetzt, beim achten Jugendlichen, ist vom Survivalprojekt eigentlich nur noch das Holzhacken als Pflichtteil übrig. Ganter sagt selbst: „Ich werd ja älter.“ Und wo er in seiner Broschüre noch die hohe Schule des Überlebens beschwört, wo „Feuer ohne Streichhölzer“ und „Sammeln von Wurzeln“ auf dem Programm stehen, gehen die Lebenskräfte des Erlebnispädagogen längst in profanere Ziele ein. „Ich hatte einen da, den Sascha, der hat sich vier Wochen nicht geduscht. Keine Unterwäsche gewechselt. Und mein erster Jugendlicher in Finnland, das war der Matthias. Den haben sie nach sechs Wochen wieder abgeholt, weil der ist eines Nachmittags plötzlich umgefallen. Lag da am Boden. Der hatte als Kind einen Herzfehler. Aber das hat ja keiner gewusst.“

Jetzt kann sich Dennis ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen. Er hält das Ganze offenbar für einen genialen Fluchtplan. Dann fragt er Ganter nach einer Zigarette und kriegt sie. Nein, davonrennen wird Dennis wohl nicht mehr. Er sei genau im Zeitplan, sagt er. Wenn er zurückkommt, geht er zur Schule: Auch ohne Mittäter kennt er noch „voll viele“, die sicher auf ihn warten. Und hier wird er „den Karsten“ noch ein paar mal treffen, seinen Bewährungshelfer, mit dem er erst vor kurzem eine Radtour gemacht hat. Zu den Fjälls im Norden. Um die Seen. „Es ist schon schön da oben. Da sind die Berge und so, voll geil. Und ein Boot mit Sauna drauf.“

Und der Mentor, wie er sich in seiner Broschüre nennt, Hans-Peter Ganter. Den laden sie schon manchmal in die Sauna ein, die Dörfler aus Marrasjärvi. Oder zur Elchjagd. Nur ihr Schnapssaufen verbergen sie noch in seiner Gegenwart. Diese Leute hier, die seine Sprache nicht verstehen und wohl kaum die Sitte, dass einer unentwegt alles zusperrt. Immer als Erster da ist. Sie lassen ihn meist gewähren. Bis auf einmal, im ersten Jahr, da wollte ihm ein „alter Lappländer“ ans Leder. „Also nicht körperlich, aber fast. Dem hat wahrscheinlich im Krieg die Wehrmacht das Haus abgefackelt.“ Aber nachdem keiner verstand, was der andere sagte, war die Erregung bald verflogen. Über einem Grog.

Natürlich hat er wahnsinnig Probleme mit der Sprache, sagt Ganter. Im Herbst wird er sie lernen müssen. Denn dann kommt ein Jugendlicher zurück zu ihm, ein Siebzehnjähriger aus Karlsruhe, der wäre dann schon das dritte Jahr hier. Und der wird in die finnische Schule gehen müssen. Das passt Ganter gut. Er habe sich erst kürzlich entschlossen, nicht in zehn Jahren alles zu verkaufen und als Rentner nach Mallorca zu gehen, sagt er. „Nein, ich werd bleiben, bis zum bitteren Ende. Deshalb schreib ich jetzt grad mein Testament, sonst kriegt ja der Staat hier alles. Und da hab ich an den Jugendlichen gedacht, der jetzt kommt.“ Der zurück nach Lappland will. In Deutschland nie zurechtkam und kämpfte und spuckte und schlug, doch der jetzt den Fluchtweg weiß: nach Norden. Wo er die Stille hat, den ewigen, lichten Wald. Knochenharte Winter, schlaflose Sommer. Und sonst nichts. Kenny kommt.

Nachwort: Anfang Dezember, ein Anruf bei Hans-Peter Ganter. Es ist jetzt eisige Nacht in Lappland, die Sonne hebt sich jeden Tag nur für ein paar Stunden über den Horizont, der Rest ist blau gleißende Dämmerung und samtenes Schwarz. Im Winter gibt es nicht viel zu erzählen, denn die Welt ist erstarrt und vergibt den Menschen jetzt keine Fehler, es gibt kein Fortlaufen, und auch das Ankommen wird schwierig. Im Zentrum von Marrasjärvi sei ihm eben ein Rentier vor das Auto gerannt, erzählt Ganter, „ein weißes, ich hab’s nicht gesehen, jetzt ist ja alles weiß“. Blechschaden, nichts weiter, alle seien wohlauf, sagt er. Alle.

„Und Dennis?“ – „Der lernt“, erwidert Ganter nach kurzem Zögern. Er hört sich ausgeruht an dabei und womöglich ein wenig stolz. Je extremer das Klima, umso mehr regelt sich von selbst … „Und Kenny?“ Noch im Spätherbst gab es ein Tauziehen um ihn, weil die Eltern oder das Amt sich sperrten und der Junge dazwischen kopflos wurde und willenlos auch bald. Viel länger, viel zäher als erwartet war dieser Herbst, das intensive Finnisch-Lernen blieb für Ganter dabei auf der Strecke. „Und Kenny?“, frage ich noch einmal. „Der Kenny? Ja, der ist jetzt da.“

THOMAS BRUNNSTEINER, geboren 1974 in Österreich, ist freier Autor lebt im finnischen Teil von Lappland. Zum Überleben arbeitet er zuweilen auch als Touristenführer, Sprachlehrer und Rentierschlachter