Eine Familie unter Beschuss

Der Vater wollte, dass seine Kinder endlich ihre Verwandten im Irak kennen lernen Nachdem die Familie beschossen worden war, baten die USAum Stillschweigen

VON RÜDIGER BÄSSLER

Eine der Kugeln streifte den zehnjährigen Mahmoud am Kopf und fetzte ein handtellergroßes Stück seines Schädelknochens weg. Seinem Bruder Hassan, 13, drangen zwei Geschosse in die Wade. Der 14 Jahre alten Schwester Zainab zerschmetterte ein Projektil das Handgelenk, zwei weitere trafen sie ins Bein. Wie durch ein Wunder blieb der achtjährige Haitham unverletzt. Er hatte, als die Schüsse fielen, gerade am Boden des Mitsubishi-Kleinbusses geschlafen. Vater Ikram aber, 43, steckte eine Kugel in der Leber, eine zweite im Rücken knapp neben der Wirbelsäule. Bis heute, mehr als ein Vierteljahr später, wagen es die Ärzte nicht, sie zu entfernen.

Ende Juli dieses Jahres war die Familie mit dem Auto vom schwäbischen Geislingen in den Irak aufgebrochen. Ikram al-Moien hatte mit seinem Entschluss zu dieser Reise lange gewartet, nun hielt er das Risiko für vertretbar. Endlich sollten seine Kinder ihre in Bagdad lebenden Großeltern, Onkeln und Tanten kennen lernen. Kurz vor der Abreise der ganzen Familie durchkreuzte ein Trauerfall den Plan. Heute mutet es wie ein Wink des Schicksals an: Der Bruder von Ehefrau Taghreed al-Moien war gestorben. Um bei der Beerdigung dabei sein zu können, flog sie mit der einjährigen Tochter Diana nach Bagdad voraus.

1994 hatte al-Moien mit seiner Ehefrau überstürzt den Irak verlassen müssen. Zurück blieben seine Mutter, drei Schwestern und ein Bruder. Ihm war keine Wahl geblieben, denn er hatte als Maschinenbauingenieur bei einer irakischen Firma gearbeitet, die für Bauabnahmen zuständig war. „Damit hatten wir Kenntnis von fast allen geheimen Projekten“, erzählt al-Moien. Als UN-Waffeninspektoren ins Land kamen, wurden er und seine Kollegen von Vorgesetzten aufgefordert, sämtliche Daten von ihren Computerfestplatten zu löschen. „Das haben wir auch gemacht, aber die Leute von der UN haben die Daten wiederhergestellt.“ Das Saddam-Regime steckte in diplomatisch brisanten Erklärungsnöten, unter der Hand wurde der Ingenieur der Sabotage verdächtigt.

Ein Verwandter bei der Polizei warnte al-Moien: Flieh! Die Familie raffte ihre Habe zusammen und reiste in den Jemen aus. 1996 kamen die al-Moiens nach Deutschland. Sie stellten erfolgreich einen Asylantrag und bekamen deutsche Pässe. Der Vater fand Arbeit als Ingenieur bei einem Autozulieferer in Heilbronn, die Kinder gingen zur Schule, endlich führten sie alle das Leben einer normalen Familie in geordneten Verhältnissen.

Es war spät geworden an dem syrisch-irakischen Grenzposten, später als gedacht. Um 2.30 Uhr war der Mitsubishi in die Schlange der wartenden Fahrzeuge vorgerückt. Erst um 16.30 Uhr am Nachmittag öffnete sich der Schlagbaum für die al-Moiens. Es war der 30. Juli. Vater Ikram war in Sorge. Er wusste, er würde die gut 500 Kilometer bis Bagdad nicht wie geplant bei Tageslicht schaffen. Übernachten wollte er nach dem großen Zeitverlust aber auch nicht mehr. Also fuhr er weiter. Gegen 22.30 Uhr, unweit der Stadt Ramadi, die etwa 110 Kilometer westlich von Bagdad liegt, tauchte auf der Autobahn ein langsam fahrender US-amerikanischer Militärkonvoi im Scheinwerferlicht auf. Der Vater setzte den Blinker, um zu überholen.

An das, was dann folgte, erinnert sich die 14-Jährige Zainab so: „Ich wollte schlafen, aber ich konnte nicht, weil ich aufgeregt war, bald meine Verwandten zu sehen. Plötzlich machte mein Vater eine Vollbremsung. Der Soldat oben hat zu schreien angefangen und sofort geschossen.“

Amerikanische Militärkonvois im Irak werden von gepanzerten Fahrzeugen vom Typ Humvee gesichert, auf deren Ladeflächen schwere Maschinengewehre montiert sind. Leuchtschilder signalisieren Autofahrern in Englisch und Arabisch: „Danger. Stay back 100 m“. Die Militärs sichern sich auf diese Weise gegen Selbstmordattentäter, von denen schon viele mit Autos, voll gepackt mit Sprengstoff, in Truppenfahrzeuge gerast sind. Eigentlich haben die Soldaten Anweisung, verdächtige Fahrer bei Verletzung der Sicherheitsdistanz zuerst durch Lichtsignale oder Schüsse in die Luft zu warnen. Dieses Panzerfahrzeug in der Nacht vom 30. Juli, versichern al-Moien und seine Tochter Zainab, habe kein Warnschild getragen. Und niemand habe signalisiert, was gleich darauf passieren sollte.

Eine Kugelsalve durchschlägt die Windschutzscheibe des Kleinbusses. Ikram al-Moien reißt das Lenkrad herum, poltert mit dem Wagen über den Mittelstreifen der Autobahn, quert die Gegenspur, um weiterem Beschuss zu entkommen. Während er geistesgegenwärtig fliehen will, knallen von hinten weitere Projektile durch das Blech des Mitsubishi. Erst jetzt werden die Familienmitglieder getroffen. Der Wagen kracht in den Straßengraben. Soldaten setzen nach, mit Sturmgewehren im Anschlag. Auf Englisch ruft al-Moien: „Wir sind Deutsche! Germans!“ Ein Amerikaner schreit „Shit!“, nachdem er das Kennzeichen des Kleinbusses gesehen hat, und spricht hektisch in sein Funkgerät.

Die Familienmitglieder, die wie durch ein Wunder alle überlebt haben, werden umgehend in ein amerikanisches Militärhospital nördlich von Bagdad geflogen und operiert. Mahmouds weggeschossene Schädeldecke wird ihm während eines mehrstündigen Noteingriffs unter die Bauchdecke verpflanzt, um sie später, wenn seine Gehirnverletzung verheilt ist, retransplantieren zu können.

Als der Gesundheitszustand aller Opfer stabil genug war, wurde die Familie mit einem amerikanischen Truppenflugzeug ins US-Hospital nach Ramstein ausgeflogen und von dort in die Tübinger Universitätsklinik verlegt. „Wir hatten nichts am Leib außer einem T-Shirt und einer Unterhose“, beschreibt al-Moien die Umstände der Odyssee.

In Tübingen dann bekam der Vater, wie er erzählt, Besuch vom US-Konsulat in Berlin. Eine Botschaftsangestellte habe ihn gebeten, den Vorfall nicht öffentlich zu machen. Mittlerweile vertritt der Anwalt Wolfgang Kaleck die Familie. „Ich hoffe, die Amerikaner haben die Größe, sich zu entschuldigen und die finanziellen Konsequenzen zu tragen“, sagt er. Andernfalls werde er in den USA auf Schadenersatz klagen. Die Identität der Botschaftsangestellten ist dem Anwalt bekannt. Wegen der laufenden Verhandlungen wurde vorerst Vertraulichkeit vereinbart.

Kurz nachdem die Familie niedergeschossen worden war, alarmierte Ehefrau Taghreed die deutsche Botschaft im Irak. Von dort ging ein Bericht ans Auswärtige Amt in Berlin, das die Staatsanwaltschaft Ulm informierte. Die Justizbehörde leitete Ende August ein Vorermittlungsverfahren ein und forderte bei der US-Administration eine Stellungnahme an. „Der Bericht ist uns zugesagt worden, aber wir warten immer noch darauf“, sagt der ermittelnde Oberstaatsanwalt Christof Lehr. Er wolle herausfinden, sagt er, „ob für die Amerikaner eine Notwehrlage vorlag oder ob sie davon ausgingen, dass eine Notwehrlage vorlag“. „In dem Bericht kann stehen, was will“, kommentiert Rechtsanwalt Kaleck. Es sei doch klar, was hier geschehen sei – die Soldaten hätten ohne Vorwarnung auf Unschuldige geschossen. Von Notwehr könne gar keine Rede sein.

Seit dem 13. August lebt die Familie wieder in ihrer Geislinger Wohnung. Mahmoud, Zainab und Haitham müssen noch mehrere Male operiert werden. Der nun arbeitsunfähige Ikram al-Moien wartet zu Hause auf Fortschritte in seinem Fall. Mit jedem Tag, an dem das Telefon schweigt, schwindet seine Hoffnung auf ein Verfahren gegen die verantwortlichen US-Soldaten, wächst die Angst um die Zukunft seiner Kinder in ihm. Die Barreserven sind längst aufgebraucht, die Familie lebt von Arbeitslosengeld und von dem, was Freunde ihr zustecken. Und immer noch laufen die Kreditraten für das im Irak zerschossene Auto. Niemanden scheint das recht zu kümmern. Der Weiße Ring, die Landesstiftung Opferschutz, das Jugendamt Geislingen – alle haben abgewinkt, als die al-Moiens um Unterstützung nachfragten. „Für die sind wir doch nur Arbeitslose“, zürnt der Vater.

Psychologische Hilfe? Fehlanzeige. Zainab weicht im Gymnasium Fragen aus, wenn sie auf ihre taube Hand angesprochen wird. Der schwer kranke Mahmoud, der vorerst von der Schulpflicht entbunden ist, spielt daheim Videospiele am Computer. Vater Ikram trinkt Tee auf der Couch, schreibt Bewerbung um Bewerbung und kämpft mit den inneren Bildern von dieser Horrornacht. „Keiner kann wissen, wie das ist, wenn du deinen Sohn ansiehst, voller Blut, und du denkst, er ist tot.“ Die US-Botschaft hat der Familie inzwischen ein Angebot unterbreitet: 10.600 Euro Schadenersatz für den Verlust von Auto, Handy, Reisegeld, Kleidung und Gepäck. Ikram al-Moien hat abgelehnt.