„In Chile regiert bald eine Aktiengesellschaft“

Die Favoritin der chilenischen Präsidentschaftswahlen am nächsten Samstag hat ihre linke Vergangenheit vergessen, sagt ihr Konkurrent Tomás Hirsch. Unter den reformistischen Regierungen Lateinamerikas gibt es kein Vorbild für Chile

taz: Herr Hirsch, warum kritisieren Sie das „chilenische Modell“?

Tomás Hirsch: Chile ist eines der zehn Länder mit der ungerechtesten Einkommensverteilung auf der Welt. Das Modell basiert auf Freihandelsabkommen, Zollsenkungen, Auslandsinvestitionen mit sehr vielen Subventionen und Steuererleichterungen. Arbeiterrechte werden abgebaut, die Umweltgesetzgebung geschwächt, Gesundheit und Bildung verkommen zum Geschäft. Es ist also ein Modell, das die Rechte zutiefst zufrieden stellt. Sie hat heute die beste Regierung, die sie sich wünschen kann: Sie muss nicht regieren, aber tagtäglich wird genau die Politik gemacht, die sie sich wünscht.

Die Kandidatin der Concertación, des Bündnisses aus Christ- und Sozialdemokraten, wird voraussichtlich die nächste Präsidentin Chiles. Was würde sich unter Michelle Bachelet ändern?

Nichts Wesentliches, nur einige Akzentverschiebungen. Michelle Bachelet hat eine linke Vergangenheit, ihre Menschenrechte wurden verletzt, aber in ihrer heutigen Welt bedeutet das gar nichts. Der jetzige Finanzminister war in seiner Jugend auch Kommunist. Heute sind sie alle im neoliberalen Modell gefangen. Bachelet wird mit demselben Personal weiterregieren, es wird ein Stühlerücken zwischen Ministern, Staatssekretären und Botschaftern geben. Diese 400 bis 500 Leute sind an der Macht um der Macht willen. Die Concertación ist von einem sozialen Projekt zu einer Aktiengesellschaft geworden, Aktionäre mit Postenverteilung und Ausschüttung von Dividenden.

Sie würden Bachelet also nicht unterstützen oder mit ihr koalieren?

Nein, wir haben zwei grundlegend verschiedene Gesellschaftsvisionen. Heute gibt es eine inzestuöse Beziehung zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Macht.

Aber die Linke hat doch kaum eine Chance, an die Regierung zu kommen?

Unsere Allianz „Juntos Podemos Más“ (Zusammen können wir mehr) ist das breiteste Linksbündnis Chiles der letzten 30 Jahre. 55 Organisationen, politische Parteien, soziale, kulturelle, ethnische und religiöse Organisationen sind versammelt. Bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr haben wir zehn Prozent erreicht. Diesmal werden wir unseren Stimmenanteil festigen und uns als wichtige Kraft behaupten. Natürlich werden wir nicht siegen, aber wir werden besser abschneiden als viele vor drei, vier Monaten glaubten.

Und dann?

Wir haben immer gesagt, dass sich unser Projekt nicht in Wahlen erschöpft. Sie sind wichtig, denn die Stimmen ermöglichen es uns, gehört zu werden. Unsere zweite Achse ist die der Organisation und der Mobilisierung, das gehört zu der Beteiligung an Wahlen untrennbar dazu. Das eine ohne das andere wäre sinnlos. Im nächsten Jahr werden wir also eine aktive, konstruktive Opposition machen. Langfristig, das heißt in vier oder acht Jahren, wollen wir an die Macht.

Wo liegen die Unterschiede zwischen den Humanisten und den Kommunisten, den wichtigsten Parteien von „Juntos Podemos Más“?

Die Unterschiede liegen in Stil, Sprache, Vergangenheit, Figuren und Prioritäten, aber sie ergänzen sich. Die historische Linke, die Kommunisten, war immer näher an den Arbeitern dran, an den sozialen Kämpfen. Wir, die Humanisten, waren näher an den neuen Themen, der Umwelt, der Vielfalt, dem Kampf gegen die Diskriminierung. Wir waren zu Beginn auch das Projekt einer Generation – für uns sind die Generationen der Motor der Geschichte, nicht der Klassenkampf. Diese unterschiedlichen Perspektiven fließen bei „Podemos“ zusammen, es sind vor allem fünf: die humanistische mit der Gewaltfreiheit als Aktionsform, die marxistische, die sozialistische, die christliche und die ökologische.

Also die chilenische Spielart der globalisierungskritischen Bewegung der Sozialforen?

Ja, wir haben viel davon, aber am Weltsozialforum und ähnlichen Foren missfällt mir die Ablehnung der Parteien. Es ist, mit Verlaub gesagt, dumm, jemanden außen vor zu lassen. Diese Widerstände kommen aus der Vergangenheit, als die Parteien die sozialen Bewegungen benutzt haben, und darauf haben die allergisch reagiert. Aber wir greifen vieles davon auf, die Wertschätzung der Vielfalt, die Offenheit. Nicht immer gelingt uns das. Es gibt Tendenzen, Entscheidungen in geschlossenen Gruppen zu fällen, zur Bildung von Führungszirkeln, die Kontrolle zu übernehmen. Horizontale Entscheidungsprozesse sind nicht einfach, ich erlebe das jeden Tag im Wahlkampf. Wir haben das keineswegs gelöst, aber wir versuchen es wenigstens.

Welcher der reformistischen Regierungen in Lateinamerika fühlen Sie sich am meisten verbunden?

Keiner. In Brasilien ist Lula zum Instrument des Neoliberalismus geworden. Bereits vor der Wahl, als er die Übereinkunft mit dem Internationalen Währungsfonds unterzeichnet hat, hat er sein Projekt aufgegeben. Wohin es in Uruguay geht, bleibt abzuwarten. In Argentinien gibt es interessante Aspekte, der Widerstand Néstor Kirchners in der Schuldenfrage, sein Vorgehen gegen die Korruption der Peronisten. Oder in Venezuela: Der einzige, der ein Projekt mit einer deutlich anderen Richtung verfolgt, ist Hugo Chávez.

Aber er hat auch autoritäre Züge …

… selbstverständlich! Ich rede ja von Aspekten. Sehr positiv scheint mir sein Bestreben, die nationale Industrie zu erhalten, vor allem die Erdölindustrie, die Alphabetisierungskampagnen, die Programme im Gesundheitsbereich oder für die lateinamerikanische Integration. Andererseits habe ich ernste Zweifel, was seinen übertriebenen Populismus angeht. Der geht auch auf seine Vergangenheit als Militär zurück, ebenso sein Paternalismus. Diese Vision teile ich nicht.

Zum Schluss: Glauben Sie, dass Augusto Pinochet noch verurteilt wird?

Das wollte und will ich immer noch glauben, ich will lieber naiv sein als pessimistisch. Fest steht, dass es Grund genug gibt, ihn zu verurteilen. Das bezweifelt niemand mehr. Die Beweise sind so umwerfend, so indiskutabel. Der einzige Hinderungsgrund wäre seine Gesundheit, aber auch der ist jetzt widerlegt. Klar ist allerdings, dass er nicht im Gefängnis landen wird, schon aus legalen Gründen, aber das bekümmert mich nicht – er lebt schon seit vielen Jahren in einem psychologischen Gefängnis. Letztlich sind wir frei und er ist im Gefängnis.

INTERVIEW: GERHARD DILGER