die taz vor 15 jahren über deutsche geiseln im libanon
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Wieder einmal scheint der deutsche Staat vor dem Dilemma zu stehen, entweder auf seinen Strafanspruch zu verzichten, oder großes menschliches Unglück Unschuldiger in Kauf zu nehmen. Um diese Entscheidung ginge es bei einem Austausch der Hamadi-Brüger gegen die beiden verbliebenen deutschen Geiseln im Libanon. Weder rechtlich noch moralisch ist diese Entscheidung leicht. „Erfolgreiche“ Geiselnahmen reizen zur Nachahmung. […] Auf der anderen Seite: der Grundsatz „Recht geschehe, die Welt vergehe“ hat auch einen negativen Unterton. Das Recht kennt viele Fälle, in denen seine Durchsetzung aus menschlichen, sozialen, humanitären Gründen Grenzen findet. Eine Haltung, die nach dem Motto „Der Staat läßt sich nicht erpressen“ ausnahmslos dem Strafanspruch gegen Terroristen und andere Straftäter den Vorrang vor dem Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Freiheit ihrer Opfer gäbe, wäre jedenfalls in den heutigen westlichen Demokratien nicht akzeptiert.

Deutschland ging auf Forderungen von Entführern ein (Peter Lorenz 1975) oder blieb hart (Hanns Martin Schleyer 1977). Keine dieser Entscheidungen war für die jeweilige Regierung eine „klare Sache“. Bei aller Anerkennung der internationalen Dimension solcher Fälle: Kein Staat hat sich bislang das Recht nehmen lassen, diese Entscheidung souverän zu treffen.

Das bringt uns zurück zum Libanon. Die Freilassung westlicher Geiseln in Libanon und arabischer Gefangener in Israel ist Teil eines höchst wünschenswerten Prozesses der Deeskalierung von Gewalt. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten besteht im Nahen Osten die Chance, dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu entrinnen. Wenn die Freilassung der Hamadi-Brüder ein sinnvoller Beitrag zur Befriedung eines der verworrensten Konflikte der Weltgeschichte sein könnte, so muß diese Erwägung zusätzlich zum Schutz der Geiseln in die Wagschale fallen.

MICHAEL BOTHE, 5. 12. 1991