LEXIKON DES MODERNEN UND UNMODERNEN FUSSBALLS
: Klein-klein-Spiel, das

liebt Fußball und schreibt darüber

CHRISTOPH BIERMANN

Früher war der Fußball größer und es gab kaum etwas Schlimmeres, als wenn er klein wurde. Das fand jedenfalls mein Vater, glühte vor Zorn und drosch auf die Lehne des Sofas in unserem Wohnzimmer ein, weil das Fußballspiel im Fernseher wieder zu schrumpfen begann. „Jetzt spielen die schon wieder so ein Klein-klein“, schnaubte er wütend. Später im Stadion merkte ich, dass ihm das nicht allein auf die Nerven ging. Das Spielfeld war groß, die Hoffnungen noch größer, deshalb durfte nicht klein gespielt werden.

Was da gemault, geschimpft und gepfiffen wurde, wenn der Ball nur wenige Meter gepasst wurde, wo es vielleicht auch zu einem Mitspieler viel weiter vorne hätte gehen können! Wenn die Kombinationen und Doppelpässe in der Abwehr versandeten, wenn einer dribbelte und hängen blieb. „Dieses scheiß Klein-klein-Spiel!“ Es nervte, und zeugte es überdies nicht auch von Engstirnigkeit? Denn spätestens als Günter Netzer bei der EM 1972 aus der Tiefe des Raums gekommen war, wollte man doch weit geschlagene Pässe bestaunen. Das war gelebte Moderne und aufregend wie Sex auf einem Flokati.

Nein, mit Kleinformatigem brauchte niemand mehr zu kommen. Da halfen auch Erinnerungen an die Geschichte des Spiels nicht, und seien sie so glanzvoll wie der Donaufußball der Zwanzigerjahre, der Schalker Kreisel in den Dreißigern und die goldenen Magyaren der Fünfziger mit ihren fein gewobenen, fließenden Kombinationen. Das mag herrlich gewesen sein, aber es war von gestern. Schluss, aus!

Groß waren inzwischen Spielmacher und der Libero, der gravitätisch durchs Mittelfeld schritt. Vor allem Franz Beckenbauer, der so groß war, dass er auf den Thron gesetzt wurde. Groß waren weit fliegende Bälle, der Rest erschien so kleinteilig wie die Absprachen einer großen Koalition. Weshalb das Spiel über die Jahre erst in den Würgegriff der Enge geraten musste, damit sich was ändern konnte. Plötzlich fand Kaiser Franz, schon von seinem Logenplatz in Presse, Funk und Fernsehen, es seien zu viele Spieler auf dem Platz. Sepp Blatter, der Herrscher des Fifa-Fußballs, wollte sogar die Tore größer machen. Aber es war ja auch nichts mehr los. Zur Größe fehlte der Platz, der Libero ward abgeschafft, und der Spielmacher verstaubte im Museum oder an der Seite von Handpuppe Gerhard Delling im Fernsehen. Es wurde Zeit für was anderes.

Aber die historische Wende musste mit einer begrifflichen einhergehen. Also bitte schön: Um die Jahrtausendwende verwandelte sich Kleinheit in Kürze. Ein feiner Trick, aber zeitgemäßes Denken ist bekanntlich nicht weit schweifend, sondern direkt. Die Brüder von kurz heißen: knapp und klar. Und sie sind bekanntlich heute ebenfalls gern gesehen. Aus dem vermaledeiten Klein-klein-Spiel wurde also ein ehrfürchtig bestauntes Kurzpassspiel. Hennes Weisweiler, der rheinische Trainerguru, hatte immer schon gesagt: „Der schnellste Spieler ist der Ball.“ Nun flipperte er zwischen den Kickern hin und her. Weil das beim FC Arsenal in England von einem elsässischen Trainer namens Wenger besonders luzide vorgeführt wurde, sprach man selbst in der „Sportschau“ plötzlich vom One-Touch-Football.

Das klang sexy, und plötzlich wollten nur noch tumbe Trottel lange Bälle sehen. Und Maestro Giovanni Trapattoni, der sogar nach Irland floh, weil da lange Kerls so was unbedingt noch wollten. (Mit diesem kurzen Gepasse wären sie auch nicht weit gekommen.) Der coolste Fußball hingegen klang wie bei Pippi Langstrumpf, denn der kam aus dem Tiki-Taka-Land. Das heißt sonst Spanien, und die Kicker von dort übernahmen mit ihrer Nationalmannschaft und dem FC Barcelona die Fußballweltherrschaft, in dem sie die Bälle schön herumsausen ließen.

In einer weiteren ironischen Wendung der Geschichte boten sie dazu plötzlich auch noch bevorzugt kleine Spieler auf. Iniesta und Xavi sind nicht größer als ’ne Parkuhr, aber selbst von meinem Vater höre ich kein Wort der Beschwerde.