Exit Stage Left

Die europäische Linke – wie einst internationalistisch orientiert? Nur bedingt. Zeit für eine Generalkritik des bequemen Denkens

VON DOMINIC JOHNSON

Jahrzehntelang war die Zuordnung dessen, was politisch links bedeutet, in einem zentralen Bereich der internationalen Beziehungen eindeutig: Links zu sein hieß, die Unterdrückten zu unterstützen. In Afrika und Asien konnten sich antikoloniale Befreiungsbewegungen ihrer Freunde in Europa und Amerika gewiss sein, in Lateinamerika waren Linke auch gegen soziale Ungerechtigkeit engagiert.

Mit ihrem Einsatz für die „Unterdrückten dieser Erde“ (Frantz Fanon) kompensierte die antikoloniale Linke in der Zeit des Kalten Krieges gewissermaßen ihre Abhängigkeit von realsozialistischen Diktaturen und ihre durch Wegschauen geäußerte Sympathie für deren Gewaltherrscher. Entweder Stalin unterstützen oder den Kolonialismus – diese unerfreuliche Polarisierung prägte die politische Lagerbildung im Westeuropa der Fünfzigerjahre, und sie wirkte auch nach Auflösung der Kolonialreiche noch Jahrzehnte fort. Der eine wetterte gegen die Apartheid in Südafrika, der andere gegen die sowjetische Besetzung Afghanistans. Der eine hielt Fidel Castro für einen Helden, der andere Augusto Pinochet.

Doch jeder Erfolg des linken Kampfes, jedes „befreite“ Land schwächte die realpolitische Basis dieser Position. Aus vielen Unterdrückten wurden Unterdrücker, und auch sie galten weiterhin als links. Wer aber nicht mehr gegen Kolonialreiche und US-gestützte Diktatoren kämpfte, sondern gegen postkoloniale Herrscher und realsozialistische Regime, musste auf „internationale Solidarität“ der Linken meist verzichten.

Die Schwierigkeit der Linken hierzulande, in den Sechzigerjahren den Terror der chinesischen Kulturrevolution zu erkennen, in den Siebzigern mit dem Völkermord der Roten Khmer in Kambodscha umzugehen, in den Achtzigern die Massenumsiedlungspolitik der kommunistischen Militärdiktatur in Äthiopien zu begreifen, in den Neunzigern das Milošević-Regime in Jugoslawien fallen zu lassen und heute zur Politik der verbrannten Erde von Robert Mugabe in Simbabwe klar Stellung zu beziehen – um nur einige von vielen kontroversen Themen zu benennen –, hat das linke Denken allmählich diskreditiert und der Instrumentalisierung durch gerissene Machtpolitiker Tür und Tor geöffnet.

Gewitzte politische Führer in nachkolonialen Entwicklungsländern verstanden schnell, dass man bloß die richtigen antiwestlichen und sozialistischen Gemeinplätze von sich geben musste, um von der internationalen Linken willkommen geheißen zu werden. Bis heute fällt es vielen europäischen Linken schwer, den verklärten Blick der Bewunderung zu vermeiden, wenn sich ferne Diktatoren der – längst verloren geglaubten – Rhetorik der „internationalen Solidarität“ bedienen.

Am schwersten für die Glaubwürdigkeit der Linken wog nach dem Ende der Blockkonfrontation die prinzipielle Ablehnung internationaler Militärinterventionen. Dies war auf den ersten Blick seltsam, war doch die europaweite Mobilisierung für die spanischen Republikaner gegen Franco in den Dreißigerjahren ein Teil der linken Heldengeschichte und die „internationale Solidarität“ gegen Faschismus und Kolonialismus für linkes Denken integral.

In jenen Jahren war es für Europas Progressive kein Problem, mit der Waffe in der Hand in den Spanischen Bürgerkrieg zu ziehen, um den Sturz der dortigen Linksregierung durch die Franco-Putschisten zu vereiteln – am Ende war dieser Einsatz vergeblich, aber er prägte das Selbstverständnis einer ganzen Generation und ermöglichte die gedankliche Überwindung der absoluten nationalen Souveränität. In den Siebziger- und Achtzigerjahren schlugen linke Herzen mit dem Vietcong und der Guerilla El Salvadors und vielen anderen bewaffneten Befreiungsbewegungen. Man begrüßte es, wenn Kuba zehntausende Soldaten nach Afrika schickte.

In der Nachfolge dieses Ansatzes entstand Anfang der Neunzigerjahre die Doktrin der „humanitären Intervention“ – weil Helfer in Ländern wie Irak nicht länger einsehen wollten, wieso die Urheber der Verbrechen, deren Opfer sie versorgen mussten, politische Immunität genießen sollten. Das Recht zum Eingreifen zugunsten der Unterdrückten sollte höher wiegen als die Souveränität von Diktatoren.

Aber diese Doktrin blieb immer umstritten und spaltete die Linke – auch und vor allem bei ihrem größten praktischen Triumph, dem Kosovokrieg im Jahre 1999. Die Kosovo-Albaner, deren Demonstrationen sich noch in den Achtzigerjahren auf den Plätzen westdeutscher Großstädte mit denen der kurdischen PKK-Guerilla abgewechselt hatten, waren keine Freunde der Linken mehr, auch nicht die multiethnische bosnische Regierung in Sarajevo im Abwehrkampf gegen nationalistische Terrorbanden und den auf ethnische Reinheit bedachten serbischen Staatsapparat in den Neunzigern.

Teile der Linken in Westeuropa fühlten sich damals Slobodan Milošević näher als den Opfern ethnischer Säuberung in Exjugoslawien. Saddam Hussein und Slobodan Milošević gelten bis heute vielen Linken als das je kleinere Übel für den Irak wie für den jugoslawischen Torso – ihre Opfer, egal wie viele hunderttausende es waren, wurden nicht wahrgenommen. Die Mainstreamlinke forderte niemals auf der Straße ein Eingreifen gegen den Völkermord in Ruanda. Omarska und Srebrenica – zwei Orte des Grauens, ohne deren Aufarbeitung die düstere Geschichte des postsozialistischen Europa nicht geschrieben werden kann – sind Fremdwörter geblieben.

Die internationale Jagd auf die Verantwortlichen für Völkermord in Bosnien und Ruanda für die zuständigen UN-Tribunale oder die Suche nach den für Kriegsverbrechen im Kongo, in Uganda und im Sudan Verantwortlichen, um sie dem Internationalen Strafgerichtshof zu überstellen, war nie Objekt einer internationalen linken Kampagne. „Hände weg von …“ – der beliebte Allzweckslogan für das Äußern von Empörung über den westlichen Imperialismus – entwickelte sich zum Freibrief für Diktatoren.

Die Nachfolge des Internationalismus der Dreißigerjahre hat heute das politische Lager gewechselt. Nicht Fortschrittliche und Aufklärer, sondern Islamisten denken heute in Kategorien, in denen nationale Grenzen nicht mehr zählen und man sich weltweit für Gesinnungsgenossen einsetzen kann – ruhig auch mit der Waffe in der Hand.

Die Erben der Internationalen Brigaden in Spanien finden sich heute bei al-Qaida: Überzeugungstäter, die für eine ihrer Ansicht nach bessere Welt alles zu geben bereit sind und sich dabei nicht um Staatsgrenzen und Rechtssysteme scheren. Sie erregen sich über Unterdrückung ihrer muslimischen Brüder in Tschetschenien, Kaschmir oder Palästina und sehen dadurch Gewalt in jeder Form, auch der extremsten, als legitimiert an. Zugleich ist ihre Empörung über Unterdrückung extrem selektiv, und mit ihrem reaktionären Weltbild verabschieden sie sich von jeglichem progressiven Anspruch und pervertieren geradezu das Ideal der internationalen Solidarität.

Es müsste zur Aufgabe einer modernen Linken gehören, das verlorene Terrain der internationalen Solidarität zurückzuerobern. Ansätze dazu sind natürlich vorhanden. Auf Weltsozialforen und ähnlichen Veranstaltungen werden die Folgen der Globalisierung kritisch beurteilt. Doch oft äußert sich bei diesen Gelegenheiten eine seltsame Mutation des von der Linken sonst immer bekämpften imperialistischen Denkens, in der der weiße Westen dem Rest immer automatisch überlegen ist. Der „Westen“, der „Norden“ oder die „Konzerne“ – sie werden von vornherein als mächtiger und böser als alle anderen gewertet.

Interessen von Regierungen in Entwicklungsländern sind demgegenüber in dieser Weltsicht benachteiligt und daher automatisch unterstützenswert. Multinationale Konzerninteressen in Entwicklungsländern gelten in den Augen vieler Linker als grundsätzlich verwerflicher als alles, was von Interessenträgern der Länder selbst in den eigenen Gesellschaft an Verbrechen verübt wird. Der Ruf nach politischen Regelwerken für eine angeblich entfesselte Globalisierung wird laut, gegründet auf einer grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber dem Machtanspruch des Staates. Freilich: In Staaten, deren Mächtige keinerlei Beschränkungen unterworfen sind, bedeutet mehr Macht für den Staat nicht bessere Regulierung, sondern mehr Willkür, mehr Straffreiheit, weniger Bürgerrechte.

Freiräume für die Menschen müssen in den meisten Ländern der Welt gegen die jeweiligen Staatsapparate erkämpft werden, und gerade bei diesem Kampf kann die Globalisierung den Schwachen helfen – durch das Vordringen von Mobilfunk- und Internettechnologie gegenüber Zensur und Desinformation, durch ökonomische Alternativen zu staatsmonopolistischer Mangelwirtschaft, durch die Verfügbarkeit internationalisierter mentaler und kultureller Freiräume, die sich etatistischen Ideologien entziehen.

Wer heute von der hiesigen Linken unterstützt wird und warum, scheint sich oft bloß noch an der jeweiligen Vermarktung festzumachen. Guerillakämpfer, die das Wort „kommunistisch“ oder „maoistisch“ im Namen tragen, können noch immer auf zumindest aufgeweckte Neugier von Teilen der Linken zählen, ebenso „Zapatisten“ in Mexiko oder in Europa die mit linker Rhetorik operierenden Separatisten in Nordirland, auf Korsika und im Baskenland. Das Streben der Kurden im Nordirak erweckt hingegen kaum das links inspirierte Interesse, ebenso unbeachtet bleiben die Ölrebellen in Nigeria, die gegen die Verschandlung des Nigerflussdeltas durch Ölkonzerne kämpfen.

Vielleicht ist das aber auch gut so, denn das Erwachen eines solchen Interesses würde vermutlich, in Anbetracht der Schablonen der Vergangenheit, mit einer katastrophalen Vereinfachung des Blicks einhergehen und zum Beispiel die mörderische ethnische Dimension von Nigerias Ölkonflikten ausblenden. Leider erschöpft sich die Antwort auf die Frage „Was ist links?“ im Hinblick auf Konflikte in Entwicklungsländern heutzutage oft darin, einer Situation ein Freund-Feind-Muster überzustülpen, eine Seite als „gut“, eine andere als „böse“ zu kennzeichnen und dann bei der konkreten Unterstützung nur noch darauf zu achten, dass es den „Guten“ eben gut geht. Man will Freunde fördern statt Gesellschaften verändern.

Das bedeutet nicht, dass es keine Möglichkeiten mehr gäbe, wahrhaft emanzipatorisches Denken in solchen Konstellationen praktisch anzuwenden. Die Konflikte um die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in zahlreichen Ländern – von den Mineralien des Kongo über das Öl Nigerias bis zum Erdgas Boliviens, tendenziell auch bis zum Öl im Irak und zu den weltweit knapper werdenden Ressourcen Land und Wasser – stellen die uralte Frage nach sozialer Gerechtigkeit wieder ins Zentrum globaler Politik. Hier treffen Interessen der Einheimischen, der jeweiligen Regierungen und auswärtiger Verbraucher und Investoren aufeinander, und hier werden die Machtfragen der Globalisierung ausgetragen.

Es würde zur Kernaufgabe linken Denkens gehören, solche Interessenkonflikte zu analysieren, den daraus entstehenden Zwang zur grenzüberschreitenden politischen Gestaltung zu reflektieren und daraus verallgemeinerungsfähige Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Ein Beispiel: die internationalen Rohstoffmärkte. Bekannt, zum Beispiel in Bezug auf Öl, ist der Interessengegensatz zwischen importierenden und exportierenden Ländern. Erstere wünschen sich möglichst niedrige Preise, Letztere, im Gegenteil, hohe. Nicht ganz so bekannt, aber von kritischen zivilgesellschaftlichen Organisationen inzwischen doch immer wieder beleuchtet, sind Interessengegensätze zwischen den Regierungen Öl produzierender Staaten und den Öl produzierenden Konzernen.

Und meist völlig ausgeblendet bleiben die Interessengegensätze innerhalb der rohstoffreichen Gesellschaft – zwischen Bewohnern von Rohstoffgebieten und dem Rest des Landes, zwischen den Arbeitern in einer Rohstoffindustrie und dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld, zwischen Grundbesitzern mit Schätzen unter der Erde und möglichen Nutzern dieser Schätze.

Es ist bei keinem dieser Konflikte sinnvoll, aufgrund einer einfachen Polarisierung eine fest gefügte Dichotomie zwischen Gut und Böse zu konstruieren, zwischen Mächtigen und Entrechteten. Selbst wo das möglich erscheint, kann sich diese Bewertung auf der nächsten gesellschaftlichen Stufe genau umdrehen: Illegale Goldschürfer können gegenüber ihren Regierungen rechtlose, unbezahlte Habenichtse sein, deren Kampf für ein besseres Leben unbedingt zu unterstützen ist – zugleich ist es durchaus möglich, dass sie mit ihrem Tun ihre eigene Gesellschaft zerstören, Konflikte fördern und dazu beitragen, intakte Gemeinschaften zu zerstören.

Ein Mineralienschürfer in einer afrikanischen Konfliktzone arbeitet vielleicht einerseits für sein eigenes Überleben und das seiner Familie. Der Verkauf seines Produkts kann zugleich einem fremden Warlord nützen, dessen Kampf höher gestellten Machtbegierden dient. Dies kann sich innerhalb eines Landes abspielen – oder auf dem Weltmarkt. Wenn chinesische Händler in Kongos Minen von als Schürfern arbeitenden Kriegsvertriebenen Erze kaufen und damit den lokalen Warlords Konkurrenz machen, entsteht ein unübersichtliches Konfliktgeflecht, das mit einseitigen Wertungen nicht mehr zu verstehen ist.

Aber genau daraus, die Resultate tausender solcher Vorgänge im Blick, ergibt sich die Verteilung von Macht in der globalisierten Welt von morgen. Ressourcenkonflikte sind die Orte, an denen sich die weltwirtschaftlichen Beziehungen der Zukunft formieren. Die vielen Ideologien der Vergangenheit nützen beim Verständnis dessen, was dabei abläuft, eher wenig. Es genügt eben nicht, die Welt verändern zu wollen. Man muss sie auch interpretieren können.

DOMINIC JOHNSON, 39, ist Afrikaredakteur der taz und befasst sich mit der Ressourcenausbeutung in Afrikas Konfliktgebieten