Kolumne Landmänner: Die Menschheit stinkt nicht

Wie der Kiez riecht, wenn das dumpfe Dröhnen im Kopf wieder freien Atemwegen gewichen ist.

Zwei Wochen lang konnte ich die Menschheit nicht riechen. Nein, nicht weil sie den Planeten an die Wand fährt oder lieblos, egoistisch und sowieso verkommen ist. Es war einfach nur eine hartnäckige Erkältung.

In den Nebenhöhlen ging es so farbenprächtig zu wie in jenen weltberühmten Grotten des Vézère-Tals im Perigord, Unesco-Weltkulturerbe dank steinzeitlichem Gestaltungswillen.

Und dort, wo früher der ein oder andere Gedanke wohnte, Hoffnungen schimmerten und Erinnerungen an die Oberfläche gelangten, war nur noch Sekretstau. Ein dumpfes Dröhnen im Kopf also.

Das Essen wurde zu Dämmstoff in verschiedenen Aggregatzuständen, das Leben der Anderen zum Hintergrundgeräusch und das Bett zum Lebensmittelpunkt. Was war eigentlich los in den letzten beiden Wochen? Wie geht es dem Euro? Und riecht die Menschheit noch?

Um das herauszufinden, bedurfte es eines Spaziergangs im herbstlichen Kiez. Und siehe ja: die Menschheit riecht, dünstet, verströmt Odeur und duftet. Die Dame zum Beispiel, die bräsig flanierend ein Vorbeikommen unmöglich macht, scheint eine Patchouli-Spülung zu benutzen - es ist, als würde plötzlich eine Studienfreundin aus vergangenen Tagen dort gehen, deren Haar stets genau diesen Geruch in sich trug.

Sogar ihr vertrautes Lachen scheint zu erklingen. Der schwerstangetrunkene Handwerker in weißen Latzhosen, der am helllichten Samstagmittag wirklich Feierabend hat, trägt eine frische Bierfahne spazieren, die sich mit Lack- und Farbverdunstungen mischt. So riecht es, wenn man mit Freunden zusammen die Wohnung renoviert und alle nach getaner Arbeit einen Sechserpack aufreißen.

Drei picklige Teenager-Jungs mit riesigen Sporttaschen kommen entgegen, sie riechen nach Chlor und Duschgel "For Men" - zu Hause warten ihre Mütter und Väter mit dem Mittagessen. Nach dem Sport schmeckt alles dreimal so gut. Die alte Dame im Supermarkt riecht nach Alter, das man nicht riechen soll. Nach Handcreme und Kölnisch Wasser. Und ihr Mann nach Nikotin, Haarwasser und Alter. Sie kaufen Kartoffeln, Gemüse und Speck, es wird wohl heute Suppe geben.

Der Obdachlose im EC-Automaten-Raum nimmt einem den Atem und es dräut der Gedanke "Es stimmt doch irgendwas nicht mit dieser Gesellschaft", während der Fünfziger aus dem Automaten sirrt und entsprechend kein Kleingeld vorhanden ist für den Bettelnden, "Tut mir leid!".

Der türkische Mann in der Schlange beim Gemüsehändler riecht süßlich nach Haarwachs - er arbeitet im Zigarettengeschäft um die Ecke, "Merhaba!", alle in seiner Familie haben das gleiche freundliche Lächeln.

Die junge fränkische Studentin vor ihm in der Schlange müffelt nach ungelüfteter Kleidung, talgigen Rasta-Locken und altem Hund - und strahlt die ganze Welt an, als sei sie eine Königin und die Sonne ihr Gemahl. Die Welt gehört ihr.

Der Humpelnde an der Bushaltestelle verströmt den Geruch von Armut, sie riecht nach Alkohol, Schimmel und Zwiebeln. Die Proll-Prinzessinnen daneben stinken dagegen an - mit Puder, Haarspray, Deodorant, Discounter-Parfum, Fruchtkaugummi und Limonade.

Was ist nun mit dem Euro? Wer weiß. Aber nach zwei Wochen Abwesenheit durch Krankheit kann ich verbindlich mitteilen: Die Menschheit stinkt nicht. Sie duftet nach Leben.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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