Kolumne Blagen: Wohngemeinschaft mit Minderjährigen

Wenn Fremde sich in Ihrer Küche Mortadellareste aus der Zahnspange puhlen, ist es Zeit für Benimmregeln.

Sie sieht jünger aus als Ende vierzig, zugegeben. Meine Freundin Sibylle hat glänzendes Haar, sie trägt eine coole Agenturbrille und hat es nicht jeden Tag nötig, sich die Augenringe, Krähenfüße und Nasenfältchen wegzupudern, um gut rüberzukommen. Insgesamt ist Sibylle tatsächlich das, was man in ihrem Alter eine "jugendliche Erscheinung" nennt. Aber nun auch nicht mehr dermaßen jugendlich, dass es das Benehmen jener Kinder rechtfertigen würde, denen sie zu Hause von Zeit zu Zeit begegnet.

Sibylle wohnt mit ihrer Tochter im Prenzlauer Berg. Sie wissen schon, das sind diese elf Quadratkilometer Deutschland in Berlin, wo es statt Verkehrsunfällen Buggystaus gibt und die Mütter aussehen, als seien sie die besten Freundinnen ihrer Kinder, lediglich getrennt durch dreieinhalb Jahrzehnte Altersunterschied.

Da jedenfalls, im Prenzlauer Berg, geht Sibylles Tochter aufs Gymnasium. Wenn nachmittags die Schule aus ist und die jungen In-Bezirk-Bewohner sich noch einen Frozen Yogurt reingepfiffen haben, treffen sie sich gern alle zu Hause bei Sibylles Tochter. Denn die hat ein schönes großes Zimmer und - das vor allem - eine Mutter, die den ganzen Tag arbeitet.

Sie tun dann das, was man so tut in der Phase des körperlichen Erblühens bei gleichzeitigem mentalem Reifedefizit: die Musik laut aufdrehen, rumkreischen, in sozialen Netzwerken rumsurfen. Normal. Wenn es aber Abend wird, Mutter Sibylle nach Hause kommt und in ihrer Küche die Zeitung liest, kommt es immer wieder vor, dass sich die Tür des Kinderzimmers öffnet, jemand rausgeschlendert kommt, wortlos den Kühlschrank öffnet und sich mit seinen schmutzigen Griffeln Käse- und Wurstscheiben schnappt. "Tach!", grüßt dann die jugendliche Erscheinung Sibylle von hinten, und ein Rücken antwortet "Tach!" - "Sind wir uns schon vorgestellt worden?", hakt Sibylle dann mit leicht gereiztem Tonfall nach. Nein, sind sie sich nicht.

Der wortkarge Gast dreht sich um und entpuppt sich als Pubertierender, der sich gerade mit dem rechten Kleinfinger einen Mortadellarest aus der Zahnspange pult. Der Unbekannte nickt Sibylle wortlos und ohne ein Zeichen des Erkennens zu und verschwindet wieder zu seinen Altersgenossen.

Sibylle hat in derlei Momenten das ungute Gefühl, in ihrer eigenen Wohnung in einer Art Wohngemeinschaft für Minderjährige gelandet zu sein, deren unbezahlte Sozialpädagogin sie ist. Dieser Eindruck verstärkt sich immer dann, wenn die jungen Menschen gemeinsam das getan haben, was man in dieser Lebensphase kochen nennt. Also eine Art Eier-Toast-Leberwurst-Gewürzgurken-Massaker. An solchen Tagen fühlt Sibylle sich in ihrer Küche nicht nur als unfreiwilliges WG-Mitglied, deren Mitbewohner weder über Kommunikationsfähigkeiten noch Benimmse verfügen. Sondern auch gleich noch als deren Putzfrau, erzählt sie mir.

Warum sie nicht einfach mal ihre Tochter geradezieht und ihr klarmacht, welche Ge- und Verbote im Hause Sibylle zu befolgen sind, frage ich. "Ach", antwortet die jung gebliebene Sibylle, "ich bin ja froh, dass sie mich überhaupt noch in der Wohnung akzeptiert. Nicht, dass sie mir noch kündigt, sie will ja später mal Jura studieren." Ach, denke ich, so ein bisschen Benimmse wird sie trotzdem brauchen können, sogar im Prenzlauer Berg.

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1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

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